Daisy Sisters
Vivi hinauswollte, als sie von dem politischen Glauben ihres Vaters erzählte, so fällt es ihr nun leichter, sie zu verstehen. Denn jetzt sieht sie es. Alle diese Porzellanvasen, von denen sie vorsichtig die Staubteilchen wegwischen muss, wofür in aller Welt werden die hier gesammelt? Sie steht plötzlich da mit einem Silberteller in der Hand. Das Ding könnte darüber entscheiden, ob sie weiterleben kann – oder mit einem Sprung ins schwarze Wasser enden muss.
Aber natürlich stiehlt sie nichts, sie ist nicht so eine. Eigentum ist heilig, auch wenn es ungerecht verteilt zu sein scheint, es reicht, sich Mutters Worte vorzusagen: Sich rein halten und ehrlich sein, das ist ein Zeichen von Adel. Unser Adelszeichen.
Fünfzig Kronen ist das, was sie hat. Zum Schluss sieht sie keinen anderen Ausweg, als zu hoffen, dass der glatzköpfige Mann sie in Raten zahlen lässt, sie hat ja trotz allem eine feste Anstellung, sie kann eine Arbeitsbescheinigung vorweisen.
Am Abend, bevor sie nach Gävle fahren muss, geht sie hinunter in den Waschkeller und wäscht sich, zieht alles aus und wäscht den ganzen Körper gründlich. Sie nimmt nicht die gewöhnliche Schmierseife, sondern Seifenflocken, die sie von Habichtnases Badeseife abgekratzt hat. Die hat einen süßen Duft nach Parfüm, sie riecht nach etwas, an das sie sich vom Sommer erinnert.
Elna bleibt mit der Hand auf dem Bauch stehen und versuchtsich vorzustellen, dass sich dort etwas befindet, das ein Kind werden soll. Noch nie hat sie die Möglichkeit in Betracht gezogen, ob sie es haben will . Der Gedanke ist unmöglich. So verbietet sie sich, etwas zu empfinden.
Sie legt sich saubere Kleider zurecht und kriecht ins Bett. Sie beginnt einen Brief an Vivi, aber nach ein paar Zeilen kommt sie nicht weiter, der Stift fällt ihr einfach aus der Hand. Sie hat Angst und fängt an zu schwitzen. Sie wirft die Decke von sich, sie will ja sauber sein am nächsten Tag, wenigstens das. Sie macht das Licht aus und liegt ganz still in der Dunkelheit und fragt sich, ob sie ein Gebet sprechen soll, an Gott, der alles zum Besten lenkt. Nein, das kann sie nicht. Aber was kann sie dann? Nichts.
Absolut nichts.
Plötzlich steht Nils vor ihr, nicht ihr Bruder, sondern, der andere. Die Hose ist auf seine weißen Beine gerutscht, das Glied steht aufrecht, und er will sie haben, jetzt sofort.
»Was spielt es für eine Rolle?«, sagt er. »Jetzt kann doch nichts passieren. Den Hintern in die Luft, dann probieren wir es auf diese Weise …«
Wenn er nur in ihrer Nähe wäre, so hätte sie ihn getötet. Und hundert Kronen aus seinem Portemonnaie genommen.
Diese Nacht liegt sie wach, Stunde um Stunde.
Am Nachmittag nimmt sie den Zug nach Gävle. Wie sie auch dagegen ankämpft, so rinnt doch der Schweiß aus den Achselhöhlen.
Und dann steht sie in dem dunklen Flur und kommt nicht mehr davon. Die Augen des glatzköpfigen Mannes sind blutunterlaufen wie beim letzten Mal, aber er scheint nicht betrunken zu sein. Was war es, wozu Rut sie ermahnt hatte? Die Zeigefinger zusammenführen und gleichzeitig die Augen schließen können? Aber wie kann sie es wagen, das von ihm zu verlangen? Er zeigt schweigend auf einen Kleiderhaken,und sie zieht den Mantel aus. Dann öffnet er die Tür, hinter der sie beim letzten Mal ein schwaches Wimmern gehört hat. Es ist ein gewöhnlicher Raum mit düsteren braunen Tapeten, nichts, was einer Klinik gleicht. Höchstens der Wandschirm in einer Ecke und ein Rolltisch mit Zinkbecken. Elna schreckt zurück, als sie die Instrumente sieht und ein blutbeflecktes Handtuch. Die Gardinen vor dem Fenster sind zugezogen, schwache Glühbirnen tauchen den Raum in ein verschwommenes, unwirkliches Licht. Mitten im Zimmer befindet sich ein länglicher Tisch mit Wachstuch, dessen Beine durch Holzklötze erhöht worden sind. Unter dem Tisch steht ein Eimer. Durch eine Tür, die sie bisher nicht bemerkt hat, tritt jetzt eine Frau, die einen grauen Kittel trägt, als ob sie in einem Lager arbeitete. Sie schaut forschend auf Elna und verschwindet dann hinter einem Vorhang, ohne sich mit einem einzigen Wort zu äußern. Bis zuletzt hat Elna verschweigen wollen, dass sie nur fünfzig Kronen hat. Aber jetzt wagt sie es plötzlich nicht, es länger zurückzuhalten. Sie wendet sich an den glatzköpfigen Mann und sagt, wie es ist. Er steht an dem Rolltisch und hantiert mit den Instrumenten. Er wird seltsamerweise nicht wütend, nicht einmal unfreundlich. Er sieht sie nur an, studiert sie
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