Daisy Sisters
sieht ihren Vater an, es bekümmert sie, dass er es so schwer hat. Und Mutter … Elna verkraftet viel, aber nicht dieses vorwurfsvolle Schweigen. Sie ist ja nun schuld daran, dass es so bedrückend ist, Vergewaltigung hin oder her.
Silvester. Zwölf Glockenschläge, und dann ist es 1942. Von Vivi ist eine Karte gekommen. Ein verschwommenes Luftbild von Landskrona. Elna schämt sich, dass sie nicht geschrieben hat. Vater Rune betrinkt sich und fängt an, sich über die Lage in der Welt auszulassen, darüber, wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts immer stärker tönen, dass alle Welt sich nahe dem Ende befindet. Wenn nicht …
»Was?«
Zu aller Verwunderung ist es Nils, der den Mund aufmacht und sich erdreistet, eine Frage zu stellen. Und eine Antwort bekommt er, eine Antwort, die sich weit in die Nacht erstreckt, so weit, dass Elna beinahe auf dem Stuhl einschläft. Der Rücken schmerzt, und der Bauch ist schwer. Das Kind tritt schlimmer als gewöhnlich. Ist er dabei, sich umzudrehen? Er? Warum nicht sie?
»Hitler«, sagt Rune erbost. »So einer kommt nur alle hundert Jahre einmal. Und passt man nicht auf, so legt dieser Herr die ganze Welt in Trümmer, sodass es Jahrzehnte dauern wird, um alles wieder aufzubauen, und dann kommt der nächste Verrückte, Napoleon, Cäsar, Karl XII. Denk bloß, dass es diesmal notwendig war, die Norweger zu bitten, reinen Tisch zu machen. Wir haben es nicht mal geschafft, unsere eigene Wäsche zu waschen … Ja, ja, Herrgott. Verstehst du, was ich meine?«
Nein, Nils versteht nichts. Und diesmal kümmert es ihn nicht, dass die Pickel sprießen, wenn er sich aufregt, er wird das neue Jahr damit beginnen, dass er widerspricht. Nicht nur seinem Vater, sondern der ganzen Welt, wenn es sein muss. Aber man kann ja schon mal mit seinem Vater anfangen, und das hier, dass Hitler ein Verrückter sein soll, das versteht er nicht.
Aber jetzt erschallen Neujahrswünsche im Treppenhaus, man hat sich gegenseitig besucht, und während die Kerle Schnäpse tranken, haben sich die Frauen zu Plätzchen und Kaffee eingeladen. Surrogatgesöff bei den meisten, richtige Bohnen bei einigen wenigen. Und das Gesprächsthema ist das übliche, das Jahr ist vergangen – trotz allem! Die immer knapper werdenden Lebensmittel. Und wie, zum Teufel, ist es ihm oder ihr geglückt, an Kaffee zu kommen? In dem Loch hier gibt es doch wohl keinen Schwarzmarktbaron? Geschichten machen die Runde: Ein Verrückter hat versucht, ins Hotel einzudringen, um an die Getränke zu kommen, ist dabei in einem Kellerfenster stecken geblieben und musste von der freiwilligen Feuerwehr herausgezogen werden. Er dürfte auch an den empfindlichen Stellen Schnittwunden haben … Aber es ist schon schade, dass er es nicht geschafft hat. Das gewöhnliche Volk hat ja keine Möglichkeiten, sich auf dem offenen Schwarzmarkt Gehör zu verschaffen, der ist nurfür die Kapitalisten. Und war da nicht noch ein anderer Verrückter, der an den König geschrieben und darum gebeten hat, ihm gnädigst eine extra Kaffeeration zu bewilligen, weil sein Herz aufhöre zu schlagen, wenn es nicht die gewohnte Tagesdosis bekomme? Das Surrogat hat ihn bestimmt auch verrückt gemacht, er lief Amok, als ob er Fliegenpilze gegessen hätte. Nein, das ist ein verfluchtes Jahr gewesen, und das nächste wird auch nicht besser. Denkt bloß an diese Umsatzsteuer, die niemand begreift. Teuer genug ist es auch so schon … Aber man muss wohl hoffen, solange die Hosen noch halten . Prost und ein gutes neues Jahr. Man muss wohl damit zufrieden sein, solange man noch Arbeit hat. Aber es ist nicht besonders lustig, in einer Waffenschmiede zu arbeiten, so wie die Welt aussieht …
Die Welt, ja. Wohin man auf der Karte oder dem Globus auch blickt, überall ist Krieg, schwarze Pfeile, Zickzack-Frontlinien, neue Pfeile. Die weißen Flecken werden immer weniger. Schweiz, Türkei, Südamerika und einige seltsame Staaten in Afrika, um die sich sowieso keiner kümmert … Und dann eben Schweden. Es wäre töricht zu glauben, dass wir uns da raushalten können. Wie es jetzt aussieht, muss man wohl akzeptieren , wie es so schön heißt, dass die Steuern angehoben werden, um die Verteidigung zu verstärken. Wenn nun die Arbeiter in allen Ländern ringsum gezwungen werden, sich gegenseitig zu erschießen, so kann man sich nicht länger in Illusionen wiegen … Nee, Prost auf ein gutes neues Jahr … Man muss hoffen und darf sich nicht in die Hosen scheißen. Heute Nacht wird der
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