Daisy Sisters
letzte Tropfen geleert, das Kontrollbuch ist bis zum Äußersten strapaziert, und da gibt es keinen, der einen runden Geburtstag hätte, sodass man eine Extrazuteilung Alkohol herausschlagen könnte …
Später am Abend ist jeder in seine Wohnung gegangen. Nisse hat ein paar Schnäpse von Vater Rune stibitzt und dieFlasche mit Wasser aufgefüllt. Er macht sich keine Sorgen, heute Abend sind da so viele, die Schnaps anbieten, dass das Risiko, entdeckt zu werden, nicht so groß ist. Es wärmt jedenfalls gut und löst die Zunge.
Und außerdem ist es Zeit zum Bleigießen. Rune fängt an. Er öffnet die Ofenluke, steckt die Schöpfkelle hinein, und als das Blei geschmolzen ist, gießt er es in den Eimer mit Wasser. Es zischt, dann landet der unförmige Klumpen auf dem Tisch. Wie gewöhnlich gleicht es auf den ersten Blick überhaupt nichts, einem grauen Hundeschiss vielleicht, aber wenn man genau hinsieht, kann man schon fantasieren, was der Klumpen für das neue Jahr bedeuten könnte. Reichtum, Macht und Ehre. Oder Tod und Untergang. Sicher ist es nur Aberglaube und Heuchelei, aber was soll’s …
»Das hier sieht aus wie ein Motorrad«, sagt Rune und wischt damit alle anderen Vorschläge vom Tisch. Was hat das nun zu bedeuten? Dass man von Schutzmann Lundin überfahren wird, der ein Motorrad hat und so teuflisch schlecht fährt? Ja, ja, danke für die Warnung, man muss wohl aufpassen, wenn dieser Verrückte um die Ecke kommt. Der Nächste ist dran! Es ist Nils. Nach Mutters Ansicht hat der Klumpen die Form eines schönen Engels, aber Nils sagt, das sieht ja wohl jeder, dass das ein Auto ist. Was man jetzt damit soll, wo es kein Benzin gibt und man keinen Führerschein machen darf? Nein, vielleicht ist es doch ein Engel, ein weiblicher Engel, eine Frau. Das Schöne am Bleigießen ist ja, dass man selbst bestimmt, was man sieht. Eine nackte Frau ist das! Mutter ist an der Reihe. Vater Rune lacht zufrieden in sich hinein, als er meint, ihr Klumpen erinnere ihn an einen Elch. Will sie etwa wirklich zur Jagd?
Mutter sieht kein Tier, sie sieht eine Sommerlandschaft. Aber das behält sie für sich. »Ein Radioapparat«, sagt sie stattdessen. »Aber den haben wir ja wohl schon.«
Jetzt bleibt nur noch Elna übrig. Sie sieht, wie das Blei in der Kelle schmilzt, und gießt die graue Masse dann vorsichtig in das Wasser. Es sieht aus wie ein Bild von Vivi von hinten. Oder wie ein Flugzeug, wenn sie den Klumpen umdreht. Oder wie ein Tannenzapfen. Nein, sie schafft es nicht, sich festzulegen.
»Ich seh nicht, was es ist«, sagt Mutter plötzlich, »aber dein Klumpen ist der schönste.«
Alle sind so nett zueinander heute Abend. Man bietet sich gegenseitig Kaffee an, reicht den Plätzchenteller herum, nickt freundlich und gutmütig, wenn Vater Rune meint, es sei Zeit für einen weiteren Schnaps. Das ganze Haus scheint auf Frieden und Ruhe eingestellt zu sein. Keiner streitet, keiner schlägt sich, kein Kind schreit. Die Frage ist nur, ob nicht vielleicht doch eins von Wretmans Kindern Rachitis hat. Eins der Kleinsten hustet so schlimm.
Der Schnee fällt in der dunklen Nacht. Mutter öffnet das Küchenfenster, und der Klang der Kirchenglocken des Marktfleckens mischt sich mit dem der Domkirche von Lund aus dem Radio. Aber vorher hat de Wahl sein großartiges Gedicht gelesen, und alles ist so festlich, wie es sein soll. Vater Rune hat Tränen in den Augen, er denkt daran, dass er alt wird, obwohl er noch keine fünfzig ist. Aber mit einem Arbeiter, der sich tagein, tagaus abplagt, kann es schnell bergab gehen. Nein, er kann sich nicht sicher sein, dass er noch ein Jahr lebt. Aber er muss ja, wegen des armen Mädchens, um das es so schlecht bestellt ist.
Mutter sieht Elna an, die sich wohl fragt, wie es weitergehen soll. Sie ist doch viel zu jung für ein Kind. Mutter merkt, wie müde sie selbst ist, ausgebrannt nach dem Weihnachtsfest, das alles von den Millionen Frauen fordert, die es sauber im Haus und ein gutes Essen auf dem Tisch haben wollen.Aber man wird nicht nur davon müde, alles ist so ungewiss. Der Krieg, Elna und nicht zuletzt der geliebte Rune, der solche Schmerzen im Bein hat und keine einzige Nacht schlafen kann, ohne dass er aufstehen und stampfen und schlagen muss. Wenn bloß Arne sich anständig aufführt, wo er auch gerade sein mag. Dass er nur nicht zu viel trinkt, nichts Dummes anstellt …
Nils steht da und ist geil und umfasst sein Glied mit der Hand in der Tasche. Er hat sich die Kunst angeeignet,
Weitere Kostenlose Bücher