Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Daisy Sisters

Titel: Daisy Sisters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
es zu tun, ohne dass jemand etwas merkt. Dies ist jedenfalls die letzte Silvesternacht, die er zu Hause verbringt, das gibt er sich selbst als heimliches Gelübde. In einem Jahr wird er mit irgendeinem Mädchen im Bett liegen, und dann, Teufel auch. Es ist blöd, dazustehen und sich Unmengen von Glocken anzuhören, die nie mehr mit dem Läuten aufhören wollen. Morgen ist ein neuer Tag, und dann ist Schluss damit. Wenn es jetzt bloß nicht die ganze Nacht schneit, sodass man morgen den ganzen Vormittag Schnee räumen muss …
    Elna. Sie steht nur da und schaut. Der Klang der Kirchenglocken verstärkt die immer wiederkehrende Frage, warum alles so kam, wie es gekommen ist … Als sie da am Fenster steht und fühlt, wie die kühle Nachtluft ihr entgegenströmt, fängt das Kind plötzlich an zu treten. Die Bewegungen im Bauch sind stärker als jemals zuvor. Ohne zu wissen, warum, dreht sie sich um, die Glocken haben aufgehört zu läuten, und Mutter hat die Hand ausgestreckt, um das Radio auszuschalten.
    »Das Kind tritt«, sagt Elna.
    Vater Rune wird rot im Gesicht. Die Lippen bewegen sich, als ob er etwas sagen wollte. Schließlich bringt er es doch fertig, ihr mit seiner groben Hand die Wange zu tätscheln, und sie bemerkt, dass er Tränen in den Augen hat. Dann murmelt er etwas und verschwindet im Treppenhaus, um auf den Hofzu gehen und zu pissen. Normalerweise macht er das im Ausguss, aber diesmal nicht. Nils lacht, viel zu schnell und viel zu gekünstelt. Aber was soll er machen? Dass Frauen mit einem Kind im Bauch herumlaufen und dass es zum Schluss auf dem Weg herauskommt, nein, das ist einfach eklig. Und dass seine Schwester das gemacht hat, woran er selbst ständig denkt, das macht die Sache nicht weniger kompliziert. Nur Mutter reagiert ganz ruhig. Sie geht zu Elna und legt die Hand auf ihren Bauch. Ja, sie fühlt, dass es sich bewegt. »Es ist bestimmt alles in Ordnung mit ihm«, sagt sie und lächelt.
    Ihm. Auch sie denkt an einen Er.
    »Vielleicht wird es eine Sie«, sagt Elna.
    »Das werden wir sehen«, sagt Mutter. Und mehr wird nicht gesagt. Trotzdem wird das Kind in diesem Augenblick für alle Wirklichkeit. Natürlich sollte die Mutter mit ihrer Tochter über die Möglichkeit reden, das Kind zur Adoption freizugeben, aber … Nein, das kann sie nicht. Noch nicht. Zuerst muss es ja mal geboren werden, dann wird man sehen.
    Als Rune gepisst und sich beruhigt hat, kommt er wieder rauf und ist bester Laune. Das ist seine Art, einen Strich darunter zu ziehen, dass er zu viele Gefühle gezeigt hat. Jetzt ist es Zeit für einen letzten Schnaps, um ein bisschen Farbe ins Elend zu bringen, ein bisschen Farbe und ein bisschen Geschmack.
    »Frohes neues Jahr«, ruft er laut. »Wir haben ja ganz vergessen, uns gegenseitig ein frohes neues Jahr zu wünschen.« Und dann gibt er Mutter einen Klaps auf den Hintern, das gehört dazu. Kann vielleicht jemand noch etwas von diesem sogenannten Kaffee kochen? Und dann wechseln wir ein paar Worte über den Krieg. Seid ihr euch darüber im Klaren, dass in dieser Nacht der Krieg praktisch ins vierte Jahr geht? Hitler, der ist so ein Beispiel dafür, dass die gesammeltenSünden eines Jahrhunderts zur Geburt eines solchen Mannes führen, einmal alle hundert Jahre taucht so einer auf.
    Nils versteht nicht, was er meint, und er sagt es geradeheraus, sein Ton ist richtig schroff. Vater Rune glotzt ihn an. Wenn er getrunken hat, kann er es bekanntlich nicht ausstehen, dass ihm widersprochen wird, und schon gar nicht vom eigenen Sohn. Aber zu aller Verwunderung zeigt sich, dass Nils sich auch Gedanken gemacht hat. Ja, man könnte fast sagen, dass er eine eigene Ansicht hat. Er stimmt mit seinem Vater weitgehend überein, was den deutschen Vormarsch betrifft, aber in der Ansicht über die Sowjets scheiden sich ihre Meinungen. Ganz zu schweigen von der Frage der schwedischen Neutralität. Das soll ein neutrales Land sein, das deutsche Divisionen hindurchlässt, die von einem Kriegsschauplatz zum nächsten verfrachtet werden? Nein, das ist nichts anderes als hoffnungslose Schwäche. Da hat sich die Nation auf den Rücken gelegt wie ein Dackel, der eine Bulldogge zu Gesicht kriegt.
    »Ich stimme dir zu, das ist unangenehm«, sagt Vater. »Aber das war eine Anfangserscheinung. Und lieber das, als den Krieg im Land zu haben …«
    Nils unterbricht, will jetzt sagen, was er denkt. »Wir wären nie besetzt worden, wenn wir Widerstand geleistet hätten«, sagt er. »Die Deutschen haben genug

Weitere Kostenlose Bücher