Daisy Sisters
seinen Händen.
»Wie kommst du zurecht?«, fragt er und schaut Anders an, während er das Essen hineinschlingt.
»Wie du siehst.«
»Du säufst zu viel. Du solltest damit aufhören.«
»Warum das?«
Lasse Nyman zuckt mit den Schultern. Warum … Das ist wohl nur so eine Redensart. »Isst du nichts?«
»Sehr wenig.«
»Du stirbst, wenn du nicht isst.«
»Ich sterbe wohl sowieso.«
»Äh …«
Um Mitternacht macht sich Lasse Nyman auf den Weg. Es regnet und ist windig, er steht mitten in der Küche und zieht den Reißverschluss seiner Lederjacke zu. An den Füßen hat er braune Gummistiefel.
»Was hast du mit deinen Schuhen gemacht?«, fragt Anders, mehr um etwas zu sagen zum Abschied.
»Weiß nicht. Die sind verschwunden.«
»Viel Glück.«
Er nickt und geht, verschwindet in der Dunkelheit.
Anders sitzt wieder allein da. Die Hand, die nach dem Glas greift, ist der einzige Teil seines Körpers, der dann und wann in Bewegung ist. Dass das Herz weiterhin schlägt, ist unbegreiflich für ihn.
Vielleicht, weil man es nicht sieht?
Um neun Uhr am nächsten Morgen steht Elna in der Küche. Sie ist bleich, hat zerzaustes Haar. In der Hand hält sie ein zerknittertes Papier. »Eivor ist weggelaufen«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Ich hab den Zettel hier gefunden.«
Sie liest, Anders hört, dass die Tränen nicht mehr weit sind.
Ihr braucht euch nicht zu beunruhigen. Ich komm schon klar. Aber wenn ihr nach mir sucht, komme ich nie mehr zurück. Nie. Eivor.
» Sie war gestern hier unten bei dir?«, fragt sie.
»Ja, das war sie. Lasse Nyman war zurückgekommen.«
»Herrgott … Ist er es, mit dem sie verschwunden ist?«
Auf bemerkenswerte Weise gelingt es Anders, einen klaren Kopf zu behalten. Sie ist also weggelaufen, sie haben sich irgendwo draußen in der Dunkelheit getroffen, sind in dem gestohlenen Volkswagen aus Hallsberg verschwunden. Aber Elna kann unmöglich wissen, dass Lasse Nyman ein jugendlicher Straftäter ist.
Und er entschließt sich schnell, er zögert nicht. »Es war eine Überraschung«, sagt er. »Aber … setz dich doch. Es muss ja nicht so gefährlich sein. Er … er hat ein Auto. Sie sind bestimmt in ein paar Tagen zurück. Das ist nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.«
Aber natürlich hat er Angst. Wie soll er wissen, ob Lasse Nyman sie nicht in etwas hineinzieht, dessen Folgen sie nicht ahnt? Mit seiner Bitterkeit, seiner Verzweiflung.
»Wenn sie heute Abend nicht zurück ist, gehe ich zur Polizei«, sagt Elna, und die Angst leuchtet aus ihren Augen.
»Warte wenigstens bis morgen.«
»Sie ist doch erst fünfzehn!«
Er versucht wider besseres Wissen, sie zu überreden, noch nicht zur Polizei zu gehen. Aber wen will er damit schützen? Lasse Nyman? Und was tut er Eivor an, indem er zu verhindern sucht, dass nach ihr gesucht wird?
Lasse Nyman ist imstande, sonst was zu tun. Das hat er in der Nacht in seinem Gesicht gelesen.
Elna will, dass er von Lasse Nyman erzählt. Wer ist er? Ist er vertrauenswürdig? Wo wohnt er eigentlich? Er antwortet, so gut er kann, murmelt, versucht, Fragen unbeantwortet zulassen. Aber die bleiche Frau, die vor ihm in der Küche steht, verwandelt sich in eine Tigerin, die ihr Kind verteidigt, ihr einziges Kind, ihre Tochter.
»Warte wenigstens bis morgen früh«, fleht er.
»Wenn sie bis heute Abend neun Uhr nicht zu Hause ist, geh ich zur Polizei«, sagt sie, und an ihrer Stimme erkennt er, dass es nutzlos ist, weiter auf sie einzureden.
Er hat Angst. Aber er vermag nicht, Elna zu sagen, wie es ist. Er ist zu feige, die Angst vor einem Streit sitzt zu tief in seiner Seele.
Sie geht.
Neun Uhr heute Abend.
Anders sitzt da und starrt auf den Tisch. Plötzlich fühlt er, dass etwas Schreckliches geschehen wird, vielleicht schon geschehen ist. Etwas, was man nicht verhindern kann. Mit zitternden Händen beginnt er ein verzweifeltes Besäufnis, aber die Angst weicht nicht.
Guter Gott … Guter Gott im Himmel …
Ja, guter Gott. Das denkt Eivor auch, aber mit dem Gefühl einer rauschhaften Befreiung, als sie da in der Nacht auf der Landstraße dahinjagen, Städte umfahren, durch stürmische und schwarze Wälder. Als Lasse Nyman sie bat mitzukommen, hat sie nicht lange überlegt. Das ist ja genau das, worauf sie gewartet, wovon sie geträumt hat. Als sie sich um Mitternacht aus der Haustür schleicht, ist sie so erfüllt von gespannter Erwartung, dass sie laut schreien könnte. Aber sie läuft auf leisen Sohlen durch den verlassenen
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