Daisy Sisters
hören, ob alles in Ordnung ist.«
Er schwankt, als er da steht, er hat bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen, seit Eivor verschwunden ist. Erik, vor Schreck wie gelähmt, hat ihm erzählt, was passiert ist, da ist er zum Tabakgeschäft gestolpert, um eine Zeitung zu kaufen, und seither plagen ihn starke Schuldgefühle. War er es nicht, der diesen Verrückten in sein Haus gelassen hat, statt ihn ins Gefängnis zurückzuschicken? Davon kommt er nicht los, und was noch schlimmer ist, er hat ja die ganze Zeit über geahnt, dass etwas Furchtbares geschehen würde. Er hat anseinem Küchentisch gesessen und sich Vorwürfe gemacht, dass er nicht einmal auf seine alten Tage gelernt hat, eine Situation in der richtigen Weise zu beurteilen. Warum muss er so verdammt nett sein? Die Welt belohnt ja doch Freundlichkeit nur mit Bosheit.
Als er in den TT-Nachrichten hört, dass Lasse Nyman festgenommen wurde, nachdem er eine Straßensperre nördlich von Uppsala durchbrochen hatte, empfindet er dennoch keine Erleichterung. Da ist es, als würden alle seine aufgewühlten Gefühle eine Kehrtwendung machen. Er empfindet eine schwere und verzehrende Traurigkeit, und er bedauert Lasse Nymans verlorenes Leben. Was hat dieser arme Teufel eigentlich für Möglichkeiten gehabt? Überhaupt keine, er hatte den Kopf unter dem Beil, seit er geboren wurde, und diese Zeit, in der alle glauben, es könne nur besser werden, muss für ihn wie ein Hohngelächter gewesen sein.
Als er in der dunklen Küche sitzt und Eivor im Polizeiwagen kommen sieht, kann er es nicht lassen, herüberzutorkeln und zu fragen, wie es ihr geht. Er will ihr Gesicht sehen, darin wird er lesen können, wie dieser Tag ihr zugesetzt hat.
»Es geht ihr gut«, sagt Elna. »Es geht ihr gut.«
Er nickt und will eigentlich zu ihr hineingehen, sieht aber ein, dass Elna allein mit ihr sein will. Natürlich, er versteht und geht. Vielleicht ist es trotz allem doch nicht so schlimm um sie bestellt?
»Das werde ich in jedem Fall noch herausfinden, bevor ich sterbe«, denkt er, während er sich zurück in sein einsames Haus schleppt. Es ist eine klare Nacht, die Sterne scheinen zu leben mit ihrem glitzernden Licht. Er sieht nach oben, aber nach einem kurzen Augenblick wird ihm schwindlig, und jetzt will er diese Extrabürde nicht auch noch tragen. »Du armer Teufel«, sagt er laut zu sich selbst und zu Lasse Nymans unsichtbarem Schatten.
Als Erik nach Hause kommt, ist Eivor eingeschlafen. In der Küche sagt Elna mit leiser Stimme, dass das Mädchen seine Ruhe braucht.
Erik nickt stumm. Gewiss versteht er das. »Wie geht es ihr?«
»Ich weiß nicht. Müde. Und elend.«
»Hat sie was gesagt?«
»Was meinst du?«
»Ja …«
»Wir lassen sie jetzt in Frieden, hab ich doch gesagt.«
»Ja, ja …«
»Wo bist du gewesen?«
»Nirgendwo. Bin bloß rumgefahren. Nirgendwo.«
In der Nacht, als Erik schläft, steht Elna auf und geht hinaus in das dunkle Zimmer; sie setzt sich vorsichtig auf Eivors Bettkante. Das Mädchen hat die Decke über den Kopf gezogen, nur das dunkle Haar ist auf dem Kopfkissen zu sehen. Aber ihre Atemzüge sind ruhig.
Elna sitzt da, bis es hell wird.
Zur gleichen Zeit, während es auch in Uppsala dämmert, macht Lasse Nyman einen Satz und rammt seinen Kopf gegen die Zellenwand. Als der Wächter angerannt kommt, liegt er bewusstlos auf dem Boden. Aber es ist ihm nicht vergönnt zu sterben. Seine Uhr ist noch nicht abgelaufen. Der Riss im Schlüsselbein wird rechtzeitig zum Gerichtstermin heilen.
Er wird lange genug leben, um seine Strafe anzutreten.
Eines Morgens Mitte November erwacht Anders auf dem Küchenfußboden, und trotz seiner entzündeten Augen sieht er, dass Schnee auf den Bäumen vor dem Fenster liegt. Der Winter hat ihn überrumpelt. Hat er die Karten so schlecht gemischt, dass er das Warten mit der Vorbereitung verwechselt hat? Ja, so ist es wohl. Der Linoleumboden unter seinemRücken ist kalt, die Hose ist steif von der Nachtpisse (es ist jetzt mehr als einen Monat her, dass er seine Plastiktütenwindeln aufgegeben hat), und die Beine sind zwei empfindungslose Holzstöcke. Jeden Morgen, wenn er aufwacht, hat er große Lust, einfach liegen zu bleiben, aber dann nimmt der Branntweindurst überhand, und er kraucht auf seinen Stuhl am Küchentisch.
Die Erde ist weiß. Eine dünne Schneeschicht, hier und da steckt braunes und gelbes Herbstlaub dazwischen.
Sein letzter Winter.
Die Katze kommt aus dem Flur herein, sie setzt sich mitten auf den
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