Daisy Sisters
Küchenfußboden, genau dahin, wo Anders noch vor Kurzem lag, und beginnt sorgfältig, eine Vorderpfote zu putzen.
Alt zu werden, denkt Anders, während er mit zitternden Händen den ersten roten Grog des Tages mischt, alt zu werden ist teuflisch. Aber noch schlimmer ist, dass es unmöglich ist, lange zu leben, ohne alt zu werden. Skål!
Es ist Sonntagmorgen. Oder irgendein Feiertag, er sieht es an den zugezogenen Gardinen im Haus gegenüber. Niemand ist zur Arbeit gegangen, keiner außer dem Mann, der Morgenschicht auf dem Bahnhof hat. Es herrscht eine große Stille.
Ist heute der Tag, an dem ich sterben werde?, denkt er träge. Das tut er jeden Morgen, wenn er erwacht und verwundert merkt, dass er immer noch am Leben ist. Das Herz stöhnt und stolpert in seinem Brustkorb. Er hat es sich oft als einen rot gekleideten Arbeiter vorgestellt, der einen schweren Sack eine endlose Treppe hinaufschleppt. Ein rot gekleideter Mann, der nichts anderes will, als sich auf den Sack zu werfen und zu schlafen. Der das aber seltsamerweise nicht tut, sondern sich Schritt für Schritt vorwärtszwingt.
Was der Sack enthält, weiß er nicht. Ein Herz transportiertBlut, aber der Sack enthält etwas Festes. Feldsteine? Schrott? Knochenreste?
Es zieht von der Außentür her, aber er kümmert sich nicht darum, der Winter darf gerne nach seinen Füßen schnappen.
Er hat Schmerzen im Hals heute Morgen. Hat er sich eine Erkältung zugezogen auf dem kalten Fußboden? Er schluckt und drückt mit den Fingern auf die Mandeln und den Kehlkopf. Er wundert sich, dass es ihn beinahe beunruhigt, Halsschmerzen zu haben. Er, der hier sitzt, um sich zu Tode zu saufen! Aber das ist wohl so, denkt er, der Tod ist einfach viel zu groß, als dass man ihn verstehen könnte. Ein Kratzen im Hals ist etwas anderes, klein genug, um es zu begreifen.
Er ist so schrecklich müde. Die Stunden vergehen, er trinkt und schläft ein am Tisch, wacht wieder auf, füllt sich noch ein Glas, schläft ein. Manchmal ist die Katze da, wenn er aufwacht, manchmal schläft sie, manchmal putzt sie sich, manchmal spielt sie sogar, jagt eine Staubflocke oder zankt mit der toten Fliege auf dem Fensterbrett.
»Deiner wird sich Eivor wohl annehmen«, sagt er zur Katze. »Du kommst schon klar.«
Die Katze antwortet nicht, macht keine Einwände.
Er beginnt wieder zu denken, wieder von vorn. Holt die Bilder aus der dunklen Erinnerung hervor, sieht und hört, wie Menschen und Situationen langsam, beinahe widerwillig anfangen, mit ruckartigen Bewegungen vor ihm abzulaufen. Miriam steht da, sie hat ihren weißen Hut mit dem blauen Seidenband auf. Sie lächelt und hält ihn mit einer Hand fest, damit er nicht weggeweht wird.
Dann schläft er wieder mit dem Kopf auf der Brust, unruhig stöhnend.
Als er erwacht, sitzt Eivor auf dem Küchenstuhl, auf der anderen Seite des Tisches. Sie hat eine rote Zipfelmütze vor sich hingelegt. Im Sommer hatte Erik sie getragen.
Seit sie vor gut einem Monat im Polizeiauto angekommen ist, sind ihre kindlichen, weichen Züge einem ernsten Ausdruck gewichen.
Wie jetzt, als sie ihm forschend ins Gesicht sieht. »Du hast geschlafen«, sagt sie.
»Ich mach nicht so viel anderes.«
»Stör ich?«
Darauf antwortet er nicht, denn beide wissen, dass die Frage unnötig ist. Eivor hat nicht mehr so oft Zeit. Seit zwei Wochen nimmt sie jetzt jeden Morgen den Zug nach Örebro, und wenn sie am Abend heimkommt, ist sie müde. Der Arbeitstag bei der Schneiderin Jenny Andersson beansprucht all ihre Konzentration, und die schreckliche Reise mit Lasse Nyman ist längst noch nicht vergessen, zumal mindestens einmal die Woche jemand von der Polizei kommt, der irgendwelche ergänzenden Aufklärungen haben will, oder es ist eine übereifrige Dame vom Jugendamt, die nach ihr sehen und mit Elna und Erik reden möchte. Es wird lange dauern, bis sie dem Albtraum entkommen kann, aber das, was ihr am meisten Angst gemacht hat, eine Furcht, die sie niemandem anvertrauen konnte, ist von ihr genommen. Als sie am Morgen erwacht ist, war Blut im Bett. Sie ist also nicht schwanger, diese roten Flecken auf dem Laken sind eine so unerhörte Befreiung, dass sie beinahe betäubt ist vor Glück. Ein Glück, das lautlos ist, eine beinahe ekstatische Hitze in ihr.
Jetzt, als sie unten bei Anders sitzt, würde sie so gern erzählen. Aber warum ihm, warum nicht Elna? Sie muss das alleine tragen, es muss ein unfreiwilliges Geheimnis bleiben …
»Du hast mich vor ihm gewarnt«, sagt sie.
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