Daisy Sisters
»Aber ich wollte nicht hören.«
»Warum solltest du auf mich hören?«
»Weil du recht hattest.«
»Meinst du?«
Sie sieht ihn mit einem Hauch von Verwunderung an, und er versucht, sich etwas zurechtzulegen, was im besten Fall eine Erklärung werden kann. »Ich wollte wohl, dass du ihn sehen solltest, wie er war. Ein unglücklicher kleiner Bursche, der in seinem Leben immer gejagt wurde. Ich wollte wohl, dass du das erst wissen solltest, ehe du dann die netten Seiten an ihm entdeckst.«
»Er hat keine netten Seiten«, unterbricht sie heftig.
Herrgott, denkt er. So jung und schon diese Bitterkeit.
Er versucht es noch einmal. »Alle Menschen haben nette Seiten.«
»Du klingst wie ein Pastor. Er hatte absolut keine.«
»Pastor oder nicht. Selbst ich habe meine guten Seiten.«
Er zieht ein Gesicht, und sie lacht. Ironie ist etwas, was sie inzwischen versteht, denkt er vorsichtig.
Sie hat sich wirklich verändert.
»Er ist ein einziger großer Haufen Dreck«, fährt sie fort. »Pfui Teufel, das solltest du nur wissen. Ich könnte dir was erzählen …«
»Tu’s nicht!«
Er will nicht hören, was er ohnehin weiß. »Wie geht es dir«, fragt er stattdessen.
Wie es ihr geht? Ja, was glaubt er? Beschissen natürlich. All die Blicke, die ihr begegnen, das Getuschel im Treppenhaus. Elnas angestrengtes Lächeln, ihre Freundlichkeit und Umsicht, die nicht natürlich wirken, Eriks ausweichende Blicke und raschen Lass-dir-nichts-anmerken-Spiele. Die Alte vom Jugendamt und die Polizei. Ja, was glaubt er denn? Aber am schlimmsten ist es, dass sie plötzlich ganz ohne Zukunftshoffnung dasteht, ohne Träume und Sehnsüchte. Sie fährt nach Örebro in Jenny Anderssons exklusives Modeatelier, ohne den kleinsten Anflug von Freude. Wie soll sie damit leben können?
Sie steht auf und läuft in der Küche herum. »Hier sieht es völlig versifft aus«, sagt sie.
»Ja«, antwortet er.
»Und du stinkst. Wäscht du dich nie?«
Im nächsten Augenblick bittet sie um Entschuldigung. Sie hat es nicht so gemeint.
»Du sagst doch nur, wie es ist«, murmelt er. »Aber es gibt etwas, was noch schlimmer ist.«
»Was denn?«
»Dass es mir egal ist.«
Das versteht sie.
»Du stirbst nicht, wie du glaubst«, sagt sie.
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht will.«
»Jetzt bist du kindisch.«
»Ich bin ja auch erst fünfzehn.«
»Du bist bald eine gute Schneiderin, wirst schon sehen.«
»Das war nicht das, worüber wir gesprochen haben.«
»Sollen wir uns weiter darüber unterhalten, dass ich schlecht rieche?«
»Ich kann dir helfen, hier sauber zu machen, wenn du willst.«
»Nein, danke. Aber du könntest vielleicht etwas Kaffee kochen?«
Es scheuert und brennt im Hals, als er von dem Kaffee schlürft, den sie zustande gebracht hat. Er versteht nicht, was da mit seinem Hals los ist.
»War er nicht gut?«, fragt sie, als er ein Gesicht zieht.
»Doch. Aber ich habe Halsschmerzen.«
»Das hat Mutter auch. Da geht wohl was um.«
»Aha …«
»Jeder ist mal erkältet.«
»Ja …«
»Willst du, dass ich gehe?«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß nicht. Du wirkst so … Nein, ich weiß nicht.«
»Sauer?«
»Ja. Vielleicht. Aber das hast du gesagt!«
»Ich bin aber nicht sauer!«
»Sicher?«
»Verdammt noch mal, Kind …«
Sie setzt sich wieder und sieht, wie er immer betrunkener wird. Er ist unruhig, ohne dass er die Ursache dafür herauszufinden vermag. Ist es der Winter, der begonnen hat, nach seinen Zehen zu schnappen? Als ob er ihn an seinen Entschluss erinnern wollte? Oder ist es etwas anderes? Er weiß es nicht, aber er trinkt mehr als normalerweise. Er entfacht nicht nur den Alltagsrausch, der daliegt und vor sich hin schwelt, er macht das Feuer größer und die Flammen wilder.
»Ist heute Sonntag?«, fragt er undeutlich.
»Das weißt du doch.«
»Ich weiß nichts.«
»Trink jetzt nichts mehr!«
»Warum nicht?«
»Du bist doch schon voll!«
Das Gespräch frisst sich fest. Sie sieht ihn mit forschenden Augen an und scheint alle Zeit der Welt zu haben. Er entkommt ihren Augen nicht, es ist ein höllischer Sonntag. Gnadenlos.
»Bist du jemals in der Kirche gewesen«, fragt er.
»Ich bin doch letztes Jahr konfirmiert worden. Hast du das vergessen?«
»Ja, das hab ich vergessen.«
»Ich hab Geld für Eis von dir bekommen. Erinnerst du dich nicht?«
»War das nicht, als du die Schule abgeschlossen hattest?«
»Da auch.«
»Ich bin offensichtlich ein netter alter Kerl.«
»Hör auf
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