Daisy Sisters
gesetzt hat hinauszugehen, weiß er nicht. Wann wusste er zuletzt, warum er etwas tat? Hat er es jemals gewusst? Ist nicht sein ganzes Leben eine endlose Kette von Zufälligkeiten gewesen, die sich ineinander festgehakt haben?
Raus. Er will raus. Wenn nichts anderes, so ist der Mond vielleicht so freundlich, ihm wie ein matter Scheinwerfer zu leuchten. Wer weiß, eines Tages kommt vielleicht eine Mücke und stürzt sich auf die Mondscheibe, sodass auch der zerplatzt.
Er muss raus. Atmen, die Katze locken, den Mond anschauen. Vorsichtig steigt er über die Türschwelle und fühlt, wie die Kälte im Hals kratzt. Es schmerzt und nagt, aber er kehrt nicht um, sondern nimmt die zwei Stufen hinunter auf den Boden. Die dünne Schneeschicht macht die Schritte lautlos, und er hebt den Kopf, um nach dem Mond zu sehen.
In der Dunkelheit, beim ersten Schnee des Jahres unter seinen Skisocken stirbt er. Dass er keine Schuhe an den Füßen hat, merkt er nicht mehr. Im Hals, wo die Schleimhäute von all dem Saufen langsam zerfressen werden, befindet sich seine schwächste Stelle. Er fühlt plötzlich, dass er husten muss, und in dem bleichen Mondlicht sieht er verwundert, wie ihm das Blut aus dem Mund spritzt. Während weniger Sekunden, die wie Hammerschläge gegen seinen Kopf donnern, erkennt er, dass er stirbt, und er hat Angst. Er sieht noch, bevor er fällt, wie der Schnee um ihn herum sich dunkel färbt. Die Katze springt zur Seite wie vor einem fallenden Baum.
Er liegt mit dem Gesicht im Schnee.
Als er am Morgen von einem Bahnarbeiter gefundenwird, ist das Blut zu einem braunen Schorf rund um sein Gesicht erstarrt. Der erschreckte Bahnarbeiter rennt in die untere Etage des Mietshauses und poltert verzweifelt an die nächste Tür.
Die Nachbarn, die ihn tot im Schnee liegen sehen, mit violetten Wangen und schwarzen Strichen rund um die Augen, drehen sich erschrocken weg. Und auch der Landarzt schreckt zurück, als er den Toten erblickt. Schnell stellt er fest, dass kein Verbrechen begangen wurde, dass alles auf einen Blutsturz hindeutet. Und doch ist da etwas Übernatürliches um ihn und seinen Tod.
Als Eivor erwacht, hat man ihn schon fortgebracht, und Erik, der sie verschonen will, hat Schnee über die große Blutlache geschaufelt. Er erzählt Elna, was geschehen ist, und vom Küchenfenster sieht sie, wie der bedeckte Körper auf einer Bahre fortgetragen und in ein Taxi geschoben wird, das auch als Krankenwagen benutzt wird.
»Was soll ich Eivor sagen?«, fragt sie.
»Nur dass er tot ist.«
»Sie erfährt ja doch, was geschehen ist. Wie er aussah …«
»Ja, das wird sie wohl … Sag ihr, wie es ist. Das ist wohl am besten.«
Als Eivor am Nachmittag aus Örebro zurückkommt, berichtet Elna, was geschehen ist.
»Ich war die Letzte, die ihn gesehen hat«, sagt Eivor. »Seltsam … als ich gehen wollte, bat er mich, die Katze zu versorgen, wenn er sterben sollte. Als hätte er gewusst, dass es bald so weit sein würde …«
Am Abend sucht Erik nach der verschwundenen Katze. Eivor will nicht mitkommen. Jetzt, wo Anders fort ist, wirkt das Haus so unheimlich auf sie.
Niemand sagt etwas dazu, dass sie sich der Katze annimmt.
Am Sonntag vor der Hochmesse wird Anders begraben. Außer dem Pastor und dem Organisten sind nur Elna, Eivor und Erik zur Kirche gekommen. Der Sarg ist grauweiß, und der Pastor spricht vom Wanderer, der den Stab abgelegt hat und in das Reich eingetreten ist, aus dem es keine Wiederkehr gibt.
Die Orgel braust, Eivor denkt an Lasse Nyman, an das Holzhaus, an Anders, den sie sich unmöglich in dem Sarg vorstellen kann, der nur wenige Meter vor ihr steht. Sie denkt, dass sie das, was geschehen ist, niemals vergessen wird, niemals, solange sie lebt …
Als sie die Kirche verlassen, ist der erste Schnee weggeschmolzen. Erik hat es eilig und geht vorweg, er hat sich nur eine Stunde von der Arbeit freigenommen. Eivor und Elna gehen langsam durch den Ort nach Hause.
»Ich vermisse ihn«, sagt Elna.
»Ich auch.«
Aus dem letzten Willen der Schwester ging hervor, dass das Haus und die bewegliche Habe dem Missionsverbund zufallen würden, wenn Anders kein eigenhändiges Testament hinterlassen sollte. Das hat er nicht getan, von ihm bleiben nur ein paar abgetragene Kleidungsstücke, ein kaputter Reisekoffer, ein kaum benutzter neuer Koffer und eine unwahrscheinliche Anzahl leerer Flaschen. Als der Missionsverbund sein Eigentum in Besitz nimmt, wird alles ausgeräumt. Dieses Sündennest, das nach Verfall
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