Daisy Sisters
sie knapp die Mitte ihres Lebens erreicht hat. Sobald Eivor auf eigenen Beinen steht, ist es ihr eigenes Leben, um das es geht. Mit oder ohne Erik.
Erik, ja. Sie versteht so gut, warum sie ihn geheiratet hat. Es war eine Möglichkeit, von zu Hause wegzukommen, zumindest teilweise ihr eigenes Leben zu führen. Aber sie weiß auch, dass sie ihn nie geheiratet hätte, wenn sie Eivor nicht gehabt hätte, und die Frage ist, ob nicht auch Erik das verstanden hat.
Sie mag es, mit ihm zu schlafen. Er ist lieb und treu. Aber so unerträglich zufrieden! Seine ewige Genügsamkeit: alles wird immer besser, sein langsamer Trott tagaus, tagein, keine Herausforderungen, keine Wünsche … Nein, das ist falsch, das ist ungerecht. Sie weiß ja, dass er Kinder will, aber bis jetzt hat sie ihn dazu gebracht zu verhüten, hat es von ihm verlangt, hat immer kontrolliert, ob er ein Gummi benutzt. Aber wie lange wird er sich noch damit begnügen?
Manchmal wird sie immer noch von einer wahnsinnigenWut gepackt über das, was vor über fünfzehn Jahren geschehen ist, und sie wünscht Tod und Verbannung über den, der sie geschwängert hat. Sicher liebt sie Eivor, aber manchmal bricht es aus ihr hervor …
Wenn auch nicht mehr so oft, sie ist behutsamer mit Eivor geworden. Sie erinnert sich, wie sie selbst in dem Alter war, überempfindlich in allem, und es ist natürlich nicht leicht für Eivor, einen unbekannten Vater zu haben, selbst wenn Erik lieb ist und nie der schlimme Stiefvater war.
Hat Eivor mit Lasse Nyman geschlafen? Gott sei Dank wurde sie jedenfalls nicht schwanger. Aber was ist eigentlich geschehen …
Sie ist genauso einsam, wie ich es war, denkt sie. Und wie gern ich es auch möchte, ich kann die Barrieren zwischen uns nicht durchbrechen. Was macht es so schwer, über das Selbstverständliche zu sprechen, seine Erfahrungen zu teilen, sie an seine eigene Tochter weiterzugeben?
Manchmal hat sie in den Briefen gekramt, die sie vor langer Zeit von Vivi bekommen hat. Sie hat sie in einer Schreibtischschublade, zwei dicke Bündel, zusammengebunden mit rotem Band.
Es sind Vivis Gedanken, aber auch ihre eigenen. Sie liest manchmal darin, aber oft unterbricht sie sich, sie erträgt es nicht, erinnert zu werden. Aber warum zeigt sie sie Eivor nicht?
Bald, denkt sie. Bald wird sie selbst klarkommen. Bis dahin muss ich bei ihr bleiben. Aber nicht länger als nötig.
Erik steht mit einigen Arbeitskameraden zusammen und schaut auf einen der neuen Thermowagen, die in Betrieb genommen wurden. Sie sind voll mit tiefgefrorenem Fleisch, auf dem Weg von Skåne nach Stockholm. Hier in Hallsberg sollen sie an einen Güterzug gehängt werden. Er genießt es, die Wagen anzusehen. Jedes Mal, wenn etwas Neues bei derEisenbahn geschieht, hat er das Gefühl, bei etwas Wichtigem dabei zu sein, ein Teil der großen Veränderungen zu sein. Und jedes Mal denkt er, dass er es Elna erzählen muss, wenn er nach Hause kommt, ihr und Eivor, wenn sie Lust haben, es zu hören.
Jetzt, wo er Tagschicht hat, fühlt er sich, als hätte er ungeahnte Kräfte. Jetzt wird es Zeit für ihn, Elna zu sagen, dass er ein eigenes Kind will, gerne auch mehrere. Das ist es doch wohl, was die Bedeutung des Lebens ausmacht, wird er als Argument vorbringen. Und sie kann sich nicht darüber beklagen, wie er Eivor behandelt hat. Sie hat nichts, worüber sie sich beklagen könnte. Nichts …
Lasse Nyman sitzt in Untersuchungshaft in Stockholm. Wegen des Mordes wurde er nicht nach Mariefred zurückgebracht. Während er auf sein Gerichtsverfahren wartet, ist er vom handfesten Abscheu seiner Wächter eingekreist. Die Mitgefangenen, die er auf den Hofrunden trifft, bedauern ihn schweigend und mitfühlend. Er ist ja noch so jung, ein verdammter Bengel … Die einzige Person, der er sich anvertrauen kann, ist der Rechtsanwalt, den man ihm zugeteilt hat. Er ist noch nicht alt, er spricht Lasse Nymans Dialekt.
Was hat er ihm eigentlich zu sagen? Natürlich, verdammt noch mal, bereut er es! Sicher, sicher … Wenn nur jemand so freundlich sein könnte, ihm zu sagen, was Reue eigentlich bedeutet! Er antwortet so gern auf alle Fragen, die man ihm stellt, aber meistens versteht er sie nicht.
Die Fragen kommen aus einer Welt, in der er immer ein ungebetener Gast war. Von der er ein Teil sein will, die ihn aber immer von sich gestoßen hat. Er hat vergebens versucht, sie zu besiegen, aber das ist, als ob er versuchte, das ganze Land mit den bloßen Händen zu zerkratzen.
Die
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