Daisy Sisters
Zellenwände sind grau. Stumme Grüße von früheren Gefangenen stehen eingeritzt im Mauerputz.
Das Gerichtsverfahren soll im neuen Jahr beginnen. Selten denkt er daran oder daran, dass er eine harte Strafe bekommen wird. Wenn er denkt und nicht einfach auf der Pritsche vor sich hin döst, bewegen sich ganz andere Überlegungen in seinem Kopf.
Wie er hier rauskommt, wie er es schaffen kann zu fliehen …
Er ist überzeugt davon, dass seine Flucht nur zufällig unterbrochen wurde. Sobald er die Möglichkeit bekommt, wird er weiterfliehen. Das ist genauso sicher, wie dass der Teufel auf dem Gefängnisdach sitzt und ihm zuwinkt. Er wird sich nie ergeben!
Nie, zur Hölle …
Weit davon entfernt, auf einem Dachfirst in Örebro, sitzt eine Dohle. Eivor ist für eine Weile allein im Atelier, Jenny Andersson hat in der Stadt zu tun. Sie bleibt sitzen und schaut in die unruhigen Augen des Vogels, auf den Kopf, der sich in verschiedene Richtungen dreht, ständig beobachtend, gespannt, wachsam.
Erst als sie hört, wie Jenny Andersson die Tür öffnet, nimmt sie ihre Arbeit zur Hand.
Als sie aufsieht, ist der Vogel weg.
1960
V on Hallsberg nach Borås zu fahren ist nicht schwer. Man muss nur ein Billett lösen und in einen der vielen Züge nach Göteborg steigen, in Herrljunga umsteigen und sich dann – ungefähr bei Frufällan wäre es ratsam – bereit machen, um den Bahnsteig vor dem dunkelroten Ziegelsteingebäude nicht zu verpassen. So kommt auch Eivor eines Tages im Januar 1960, gleich nach Neujahr, nach Borås. Es ist kalt, als sie in der Textilstadt aus dem Zug steigt, aber sie geht rasch den Hang zwischen dem Technischen Gymnasium und dem Parkhotel hinauf, überquert dann die Brücke über den verschmutzten Viskan, und schon öffnet sich die Stora Brogata vor ihr. Sie geht schnell, sie kennt den Weg, es ist ihr zweiter Besuch in der Stadt. Einige Tage vor dem Lucia-Fest, vor einem knappen Monat, war sie zum ersten Mal hier. Da empfand sie die Stadt als so unendlich groß. Herrgott, es ist immerhin die neuntgrößte Stadt des Landes, und verglichen mit Hallsberg, ist es ein verwirrendes Gewimmel von Straßen, Geschäften und vor allem von Menschen. Aber schließlich hat sie zur Fabrik von Konstsilke an einer der Ausfallstraßen der Stadt gefunden. Am Tor wird sie zum Personalbüro verwiesen, wo sie ein etwas erstaunter dicker Mann empfängt. Es ist der Personalassistent, und er heißt sie willkommen in der Stadt, bei Konstsilke und vor allem bei der Arbeit in der Abteilung für Rohgarngewinnung.
Deswegen ist sie ja hier; auf eine Stellenausschreibung derFabrik in Nerikes Allehanda hat sie mühevoll eine Antwort geschrieben. Man sucht sowohl männliche als auch weibliche Kräfte, verspricht Hilfe bei der Wohnungssuche, und das gibt den Ausschlag. Am liebsten möchte sie zu Algots, der Weberei-Legende, der mythenumsponnenen Textilindustrie, aber Konstsilke muss als Anfang erst einmal reichen.
Der kleine dicke Mann betrachtet sie höflich, er sagt Sie zu ihr, und er gibt ihr eine kurze Einführung in die Geschichte der Fabrik. Er entschuldigt sich, hat viel zu tun, die Fabrik expandiert, die freien Plätze müssen ausgefüllt werden. Doch er versichert, dass sie eine glückliche Wahl getroffen habe. Konstsilke ist ein guter Arbeitsplatz, der Arbeiterstamm ist stabil, und sie wird ohne Probleme in die Routine hineinwachsen. Zu Anfang wird sie keinen Schichtdienst haben, nur normale Tagesarbeit. Wenn sie am 10. Januar um 6.45 Uhr eintrifft, so wird jemand sie abholen und zur Abteilung für Rohgarngewinnung begleiten.
»Sollte ich nicht zuerst eine Ausbildung bekommen?«
So hat es im Antwortbrief geheißen.
»Unnötig. Die Arbeit ist unkompliziert. Das lernt man sofort.«
Kann eine Arbeit so leicht sein? Und trotzdem bedeutungsvoll? Darüber hat sie während der Weihnachtstage gegrübelt. Aber die Spannung und der Eifer vor dem Umzug haben überwogen. Erik hat sie aufgemuntert, gesagt, sie habe einen vernünftigen Entschluss gefasst. Elna meint dagegen, dass sie abwarten solle, bis sie eine Arbeit bei Algots bekäme. Es fällt Elna schwer, sich mit dem Gedanken zu versöhnen, dass die Produkte von Konstsilke in erster Linie der Reifenherstellung dienen.
»Was ist das? Autoreifen, Traktorreifen? Du sollst doch Kleider nähen!«
»Ich werde nicht nähen. Ich werde Garn zwirnen!«
»Spinnen oder zwirnen. Was ist das für ein Unterschied? Ich dachte, du willst Schneiderin
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