Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
Ja, und so kannte ich mich dort aus. Aber ich war nie in der Nacht dort gewesen. Aber jetzt stand ich da, zitternd vor Angst und Kälte und hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Aber diese Entscheidung wurde mir abgenommen.“
Ich sah, wie maman tief durchatmete, um dann weiterzusprechen.
„Ganz plötzlich hörte ich ein Wimmern. Wie angewurzelt stand ich da und lauschte. Da hörte ich es wieder, diesmal ein wenig lauter. Ich strengte mich noch mehr an, um herauszufinden, woher dieses Wimmern kam. Für einen Moment vernahm ich nichts weiter als diese furchtbaren Geräusche aus dem Gasthaus. Aber dann hörte ich es wieder. Meine Augen hatten sich ja schon an die Dunkelheit gewöhnt und so konnte ich schräg gegenüber am anderen Ende der Rückfront des Gasthofes, oder wie immer man dieses Haus auch nennen mochte, eine Art Stall ausmachen. Ich war mir recht sicher, dass das Geräusch von dort kam. Mit zitternden Knien tastete ich mich an der dunklen Wand entlang. Ich ging ganz langsam, weil ich schon glaubte, meine Zehen seien eingefroren, weil ich so oft stehengeblieben war. Auch hatte ich vergessen, mir ein zweites paar Wollstrümpfe anzuziehen, was sich nun rächte. Es war bitterkalt in dieser Nacht. Ich hoffte sehr, dass sich um diese späte Stunde und bei dieser Kälte niemand in diese Art Hof verirren würde. Aber ich hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sich eine Tür an der Rückfront vom „Schwanengasthof“ öffnete, die ich vorher hatte nicht sehen können. Zu Tode erschrocken hielt ich die Luft an. Zum Glück schwang die Tür in meine Richtung auf und ich stand erst einmal unsichtbar dahinter. Oh mein Gott, chèrie, wenn ich nur ein kurzes Stück weiter vorangegangen wäre, hätte man mich entdeckt. Ich hoffte so sehr, dass nun niemand von außen die Tür schließen und mich dann entdecken würde. Aber ich hörte niemanden und sah niemanden. Vorsichtig ging ich in die Hocke und presste mich noch dichter an die Hauswand. Ich atmete nur ganz vorsichtig und leise in mein Wolltuch, damit niemand mich hören oder gar meinen Atem wahrnehmen konnte. Es kam mir vor wie Stunden, wie ich da so auf dem eiskalten Boden kauerte. Schließlich kam eines der Mädchen aus dem Gasthof getorkelt. Etwas Licht schien aus dem Inneren und ich konnte sehen, wie leicht sie bekleidet war. Es ging ihr nicht gut, sie hielt sich mit beiden Händen ihren Bauch. Sie torkelte ein paar Schritte vorwärts, fiel auf ihre Knie und übergab sich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt etwas tun sollte. Ich wusste nur, wenn man mich entdecken würde, wäre es mit mir vorbei gewesen. Dann hörte ich schwere Schritte aus dem Haus kommen. Ein Riese von einem Mann trat in den Lichtkegel. Er ging zu dem Mädchen oder der Frau, ich weiß es nicht, zog sie am Arm hoch. Sie hing dort wie ein nasses Wäschestück. Ich hörte, wie dieser Mann ein gemeines Lachen von sich gab und zu ihr sagte, sie solle sich nicht so anstellen. Schließlich wäre sie ja erst im sechsten Monat und er sei noch nicht fertig mit ihr.“
Uns beiden, maman und mir, rannen still und leise dicke Tränen über das Gesicht. Aber die Schatten der Vergangenheit zeigten kein Mitleid.
„Er zog sie mit sich, wieder hinein in das Innere dieses furchtbaren Hauses und schloss die Tür von innen. Mir war schlecht. Ich biss in mein Wolltuch, um nicht laut zu würgen. Das alles konnte doch nur ein grausamer Albtraum sein. Ich konnte, ich wollte nicht daran denken, was mit dieser Unbekannten jetzt geschehen würde. Was hätte ich mit meinen sechzehn Jahren denn schon ausrichten können? Aber jetzt hatte ich noch mehr Angst um Cecile. War meine kleine Schwester wirklich hier gelandet? Oh wie sehr wünschte ich ihr in diesem Moment, dass sie irgendwo in einer schönen Stadt mit netten Menschen zusammen sei und ihr Traum von der großen weiten Welt sich bewahrheitet hatte. Aber mir kamen wieder die Worte meines Vaters in den Sinn. Und ich wusste, dass sich Ceciles Traum nicht bewahrheitet hatte. Und in meinem Innersten wusste ich, dass dieser Traum nie wahr werden würde. Egal, ob ich sie in dieser Nacht finden würde oder nicht. Ganz langsam erhob ich mich aus meiner hockenden Stellung und massierte mit meinen klammen Händen meine Oberschenkel. Ich musste aufpassen, dass ich hier nicht erfror. Ich musste mich bewegen. Musste das Gesicht hinter diesem nicht mehr endenden wollenden Wimmern finden. Ich
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