Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
Wenn Vater in diesem kleinen Raum Cecile auch fast verdeckte, so konnte ich doch das Mieder erkennen, welches meine kleine Schwester unter ihrem Sonntagskleid trug. Es war glutrot wie die Rosenknospen. Und wenn bis zu diesem Zeitpunkt auch nur der Hauch eines Zweifels um sich gegriffen hatte, so war spätestens jetzt der Moment der Wahrheit gekommen. Ich habe bis zum heutigen Tag keine Ahnung, wie meine Eltern mit dieser Situation umgegangen wären, aber Cecile hat ihnen die Entscheidung abgenommen. Trotzig reckte sie ihr Kinn vor, ihre Augen blitzten auf und kalt, so kalt fragte sie meinen Vater: „Und nun?“. Meine Mutter und ich hörten es klatschen. Einmal, zweimal, dreimal. Noch nie hatten wir Mädchen Schläge bekommen, aber es hatte auch noch nie so eine Situation gegeben. Mein Vater drehte sich wortlos um und verließ den Raum. Er war nie wieder der Alte. Deutlich konnten meine Mutter und ich Vaters Fingerabdrücke auf Ceciles Wangen erkennen. Und immer noch standen Mutter und ich wie versteinert am Türrahmen, unfähig ein Wort zu sagen. In diesem Augenblick hörten wir unten auf der Straße das Getrappel von Pferdehufen. Cecile schaute uns höhnisch an, zog sich das zerrissene Kleid über den Schultern zusammen. Dann lief sie ohne jede weitere erkennbare Regung in ihrem Gesicht an uns vorbei. Wir hörten sie nur noch murmeln: „Ihr könnt mich sowieso nicht verstehen. Ihr habt mich nie verstanden.“ Wir hörten ihre Schritte die Treppe hinunterlaufen, hörten, wie die Haustür sich öffnete und wieder schloss. In diesem Moment setzte ich mich in Bewegung und lief Cecile hinterher, öffnete die Haustür und blieb dort stehen. Ich weiß nicht wirklich, was ich wollte. Aber ich denke, ich wollte zu meiner Schwester, wollte mit ihr reden, sie fragen, was in sie gefahren war. Aber Cecile war schon den kurzen Weg bis zu unserem kleinen Gartentor gelaufen, wo der feine Herr auf sie wartete. Mit nur einer freien Hand fasste er Cecile und half ihr auf sein Pferd und dann, chèrie, dann waren sie weg. Einfach weg.“
Noch immer hielt ich sanft die Oberarme vom maman Sofie. Angst schnürte mir die Kehle zu. Maman Sofie sah mir in die Augen und doch durch mich hindurch. „Sie war weg. Einfach weg. Mit diesem Fremden.“ Maman Sofie atmete tief durch.
„Ich kann Dir nicht sagen, was danach und auch die Tage später bei uns zuhause anders war. Außer, dass kaum gesprochen wurde. Still war es bei uns. Aber alles ging weiter seinen Gang. Ich kann mich auch noch an die Blicke der Nachbarn erinnern. D as Verschwinden von Cecile war immerhin am helllichten Tage geschehen. Meine Mutter hörte ich oft weinen. Sie wollte leise sein, aber in einem leisen Haus bekommt man vieles mit.“ Abermals verstummte maman Sofie.
Ich musste mich räuspern, bevor ich sprechen konnte . „Wie ging es Dir damals?“ Maman Sofies Lippen zuckten, als sie wieder zu sprechen begann.
„Ja, wie ging es mir? Chèrie, ich weiß es nicht. Ich kann es Dir nicht sagen. Alles ging, wie ich schon sagte, irgendwie seinen gewohnten Gang. Wir kannten unsere Aufgaben und wir erledigten sie. Die Stille im Haus war furchtbar zermürbend. Eines Nachts, als ich seit dem Verschwinden von Cecile mal wieder nicht schlafen konnte, stand ich auf, um in die Küche zu gehen. Ich wollte einen Schluck Wasser trinken. Es war noch nicht wirklich spät, wir waren vielleicht erst vor einer guten Stunde zu Bett gegangen, da hörte ich meine Eltern im Schlafzimmer miteinander sprechen. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Ich wollte nicht lauschen, aber andererseits hoffte ich, von Cecile zu hören. Schon fast zwei Monate war sie weg. Vielleicht hatten meine Eltern ja etwas in Erfahrung bringen können. Offen wurde über dieses Thema bei uns innerhalb der Familie nie gesprochen. Nicht kurz nach ihrem Verschwinden, nicht später, nie wieder. Ich wollte doch nur wissen, was mit meiner kleinen Schwester geschehen war, wo sie war. Ob es ihr gut ging. Hätte ich doch nur nicht gelauscht.“ Maman Sofie schloss für einen Moment ihre Augen, bevor sie weitersprechen konnte.
„ Ich hörte meine Mutter unterdrückt schluchzen und meinen Vater sagen, dass man Cecile in der hinteren Gasse in der Nähe des „Schwanengasthofes“ gesehen hätte. Ich weiß es noch wie heute chèrie, wie mir die Beine nicht mehr gehorchten und ich ganz langsam in die Knie ging. Chèrie, Du musst wissen, die hintere und die vordere Gasse waren und sind noch heute die berüchtigsten Gassen in
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