Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
eines Abends erzählt. Und nun Dir.“
Maman Sofie drückte mich kurz an sich, bevor diese grauenvolle Geschichte ihr Ende finden sollte.
„Schon am nächsten Tag brachte man Cecile in diese Absteige. Der Bordellbesitzer gab ihr zwei Tage, um sich auszuruhen, und dann musste sie jedem Mann, der sie wollte, zu Willen sein. Sie war jung, wunderhübsch anzusehen und man konnte sie noch brechen. Diese Menschen haben nicht lange gebraucht, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Cecile hatte zwei nicht vorstellbar furchtbare Monate hinter sich. Sie wollte mir keine Einzelheiten erzählen, sie war auch schon viel zu schwach dazu. In dem Verschlag, wo ich Cecile fand, lag sie schon einige Stunden. Dieser Tag musste die absolute Hölle gewesen sein. Sie und die anderen Mädchen waren Preise in einem widerwärtigen Spiel, das dort im Schankraum gespielt wurde. Als ich in diesem Moment aufhorchte, hörte ich auch, wie die Schreie der Mädchen immer lauter wurden. Ich konnte kaum noch hinhören. Cecile war das erste Mädchen, das sie rausgebracht hatten. Sie hatte angefangen zu bluten. Die Männer waren fertig mit ihr. Meine kleine Schwester war sich sicher, dass sie nicht die Letzte wäre. Ich hatte die ganze Zeit über, in der ich meine kleine Schwester so gut es ging festhielt, um ihr ein wenig Wärme zu geben, geweint. Ich weiß es noch, als wenn es gestern gewesen wäre. Cecile hob ihre linke Hand, strich mir über mein Gesicht und bat mich mit immer schwächer werdender Stimme ihr zuzuhören. Sie sagte zu mir: „Sophia, bitte hör mich an. Ich war töricht, so dumm, so furchtbar dumm. Aber ich habe dafür bezahlt, bitter bezahlt. Versprich mir, dass Du, so gut Du es kannst, in Deinem Leben glücklich wirst. Glücklich wirst für uns beide.“ Ich konnte nichts sagen, doch Cecile drängte mich. „Versprich es mir, Sophia!“ Und ich habe es ihr versprochen. „Du musst mir noch etwas versprechen. Bitte!“ „Was?“, fragte ich sie. „Sprich niemals mit Vater und Mutter und mit unseren Geschwistern darüber, dass Du mich gefunden hast und wie Du mich gefunden hast.“ Ohne Fragen zu stellen, gab ich ihr mein Versprechen, denn ich wusste, es sollte ihr letztes Geschenk sein. Mehr konnte sie nicht mehr geben. Sie konnte nicht wissen, dass gewisse Gerüchte schon längst den Weg zu uns gefunden hatten, aber sie musste das auch nicht mehr wissen. „Cecile“, fragte ich, „wo soll ich Dich hinbringen? Wollen wir nicht doch nach Hause?“ „Nein Sophia, das geht nicht. Du kannst mich nirgendwohin bringen. Ich kann nicht mehr laufen, ich kann kaum noch atmen, Sophia. Sie haben mir so entsetzlich weh getan. Ich spüre, dass es bald vorbei sein wird.“ Und ich wusste es auch. Ich nickte nur und trotz der uns umgebenden Dunkelheit nahm Cecile meine Bewegung wahr. Ihr Atem rasselte und mit letzter Kraft sprach sie noch einmal zu mir: „Sophia, ich danke Gott von ganzem Herzen, dass er nach allem, was ich getan habe, nach all den Schmerzen, die ich meiner Familie zugefügt habe, Dich zu mir geschickt hat. Das ist ein Zeichen. Glaube mir nur. Ich habe meine Lektion erhalten, aber Gott hat mir verziehen. Jetzt darf ich mich in Gottes Himmelreich zurückziehen und mich ausruhen. Bitte verzeih mir, Sophia. Bitte verzeih!“ „Aber ich kann doch jetzt nicht gehen, und Dich hier so liegenlassen?“ Cecile drängte sich ein wenig enger an mich heran und sagte: „Bleib noch ein paar Minuten, wenn Du kannst, aber dann lass mich hier liegen und geh heim. Du hast so viel für mich getan, mehr kannst Du nicht tun. Und behalte mich trotz allem, was ich Euch angetan habe, in guter Erinnerung. Ich wollte doch nur ein anderes Leben.“ Ich weiß nicht, ob Cecile noch hörte, wie ich zu ihr sagte: „Ich liebe Dich, kleine Schwester!“, oder ob Gott sie schon vorher zu sich geholt hatte.“
Maman Sofie und ich schwiegen eine lange Zeit, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Mir war bewusst, dass maman Sofie der Geschichte ihrer Schwester in Gedanken nachhing. Noch einmal und noch einmal. Und ich konnte und kann nicht genau sagen, was mich bewegte. Außer, dass ein furchtbares Grauen mich erfasst hatte. Wie konnten Menschen einem kleinen Mädchen nur so furchtbar weh tun? So tief in Gedanken versunken fuhr die Kutsche mit uns in Saint Berthevin ein. Es war irgendwie ein Glück, dass dieser Tag auch für unsere treuen Begleiter ein anstrengender Tag gewesen war und es passierte das erste Mal, seit wir uns auf die Reise begeben
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