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Damals im Dezember

Damals im Dezember

Titel: Damals im Dezember Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Paul Evans
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Ich winkte ihm hinterher, als er wegfuhr. Dann ging ich wieder hinein, um mein Gepäck zu holen. Wir mussten unseren Flug erwischen.

Zehntes Kapitel
    Jemand sollte ein Medikament gegen Gewissensbisse erfinden. Er würde Milliarden damit verdienen.
    Aus dem Tagebuch von Luke Crisp
    Im Juni schrumpften die sieben von der Wharton auf sechs: Suzie brach ihr Studium ab, um für das Transportunternehmen ihres Vaters zu arbeiten. Ungefähr zur gleichen Zeit gab ich Seans wiederholten Bitten nach, vom Campus weg zu ihm ins Chez Sean zu ziehen. Candace war von Anfang an dagegen.
    »Willst du wirklich mit Sean zusammenwohnen?«, fragte sie.
    »Du bist also nicht damit einverstanden?«
    »Mit Sean ist es wie mit der Strahlung – nur in kleinen Dosen verträglich.«
    »Also hast du Angst, dass mir die Haare ausgehen?«
    »Das mit den Haaren könnte ich noch verkraften. Nein, ich mache mir Sorgen um deine Seele.«
    »Meine Seele?«, lachte ich.
    »Wenn du viel Zeit mit Sean verbringst, wird er zwangsläufig auf dich abfärben.«
    »Du machst viel zu viel Wind um die Sache«, entgegnete ich. »Was soll schon passieren?«
    Sie verschränkte die Arme. »Du könntest wie Sean werden.«
    »Es ist nur für ein Jahr. Wie sehr könnte ich mich in einem Jahr schon ändern?«
    »Das möchte ich nicht herausfinden«, erwiderte sie.
    Trotz des Missbehagens von Candace zog ich zwei Wochen später ins Chez Sean. Das Zusammenleben mit Sean eröffnete mir den Blick auf eine völlig neue Weltsicht. Sean besaß eine natürliche Intelligenz und war vielleicht sogar ein Genie, aber durch und durch faul – eine gefährliche Mischung. Er bekam gute Benotungen, ohne je zu studieren. Er schämte sich seiner Faulheit nicht, sondern war vielmehr stolz darauf und verkündete, er sei den »armen arbeitenden Trotteln« ethisch überlegen, »die ihre Seele dem Teufel des Marktes verkauft haben«. An der Tür seines Kühlschranks haftete ein Schild mit der Aufschrift
    Das Leben ist dazu da, gelebt zu werden –
nicht gefürchtet, verkauft oder geschunden.
Fürchte dich nicht vor dem Tod. Fürchte dich vor dem ungelebten Leben.
    Am Abend meines Einzugs brachte er einen Trinkspruch aus. »Soll sich die Masse doch an ihr jämmerliches Leben stiller Hoffnungslosigkeit klammern. Sollen sie doch bedeutungslos vor sich hin rotten. Wir, mein Freund, werden uns unter den Lebenden befinden.«
    Im Laufe des kommenden Jahres sollte ich erfahren, was er unter »den Lebenden« verstand.
***
    Als ich zwölf Jahre alt war, erzählte mir mein Vater von einem Experiment mit einem Frosch. »Wenn man einen Frosch in kochendes Wasser wirft«, sagte er, »springt er sofort heraus. Aber wenn man den Frosch in einen Topf mit warmem Wasser setzt und die Temperatur langsam erhöht, bemerkt er die Veränderung nicht und kocht schließlich zu Tode.«
    Ich glaube, Sean begriff dieses Prinzip instinktiv. Er war das Feuer, und ich war sein Frosch. Die Veränderungen in meinem Leben vollzogen sich allmählich. Sie begannen mit beiläufigen Einladungen zu einer Party hier, einem Fest da. Rückblickend bin ich mir sicher, dass Sean mich ganz bewusst nicht zu den wilderen mitgenommen hat, weil er wusste, dass ich mich dort unbehaglich fühlen und dann möglicherweise nicht mehr mitkommen würde. Aber jede Party, zu der ich ging, schien ein wenig wilder zu werden, und ich ebenfalls.
    Es gehörte zu Seans persönlicher Philosophie, alles auszuprobieren, was ihm begegnete, und im erhabenen Namen der Freiheit drängte er mich, es ihm nachzutun. Meist machte ich es dann doch nicht, sondern ignorierte seine Verführungen. Meist, aber nicht immer.
    Mein erstes Versagen bestand darin, zu viel zu trinken. Sowohl mein Vater als auch ich tranken gelegentlich Alkohol, aber nie unmäßig viel. Das änderte sich. Sean trank zu Hause viel, und ich begann schließlich, mich ihm anzuschließen. Anfangs nur ein wenig, dann immer mehr. Auf den Partys, zu denen er mich mitnahm, tranken alle stark, und bald tat ich das ebenfalls. Zum ersten Mal in meinem Leben wachte ich in einem fremden Haus auf, ohne zu wissen, wie ich dort hingekommen war.
    An einem langweiligen Dienstagabend betranken Sean und ich uns im Chez Sean. Es gab keinen besonderen Anlass dafür – wir hörten nur einfach nicht auf zu trinken. Am nächsten Morgen hatte ich gemeinsam mit Candace einen Kurs, und ich ging spät mit brummendem Schädel dorthin und wünschte mir sehnlichst, dass jemand das Licht dämpfen möge. Als ich mich setzte,

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