Damals im Dezember
Absichten. Wir wollen die Wahrheit in Wirklichkeit gar nicht wissen. Wir dürfen es nicht. Warum sonst würden wir so hart daran arbeiten, uns vor ihr zu verstecken?
Aus dem Tagebuch von Luke Crisp
Der Alkohol war nicht mein einziges neues Laster. Sean war ein selbsternannter Frauenschwarm, was meiner Beobachtung nach auch zuzutreffen schien. Aus irgendwelchen Gründen umschwärmten ihn die Frauen, und er war stets bereit, seinen Überschuss zu teilen. Anfangs lehnte ich seine Angebote ab, weil ich Candace treu bleiben wollte, was Sean naiv fand. »Du bist nicht verheiratet. Du bist noch nicht einmal verlobt«, sagte er und fügte später hinzu: »Wenn sich ein Mann nicht in jungen Jahren austobt, tut er es, wenn er alt ist.«
Wenn man lange genug auf etwas einschlägt, zerbricht es schließlich. Eines Abends, etwa sechs Monate nach meinem Einzug bei Sean, geschah es. Candace war an diesem Abend beschäftigt, und darum ging ich mit Sean zu einer Party an der University of Pennsylvania, von der er erfahren hatte. Ich trank zu viel und verbrachte die Nacht schließlich mit einer Studentin, von der ich noch nicht einmal den Namen kannte. Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem tiefen Schamgefühl. Als ich Sean mitteilte, dass ich Candace die Sache beichten wolle, fuhr er mich an: »Sei nicht blöd. Was soll das denn bitte schön bringen?«
»Sie will die Wahrheit bestimmt wissen«, sagte ich.
»Ist das wirklich der Grund? Oder versuchst du nur, ihr deine Qualen aufzuladen?«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Du verwandelst lediglich deine Gewissensbisse in ihren Liebeskummer und zerstörst damit das Beste, was du momentan am Laufen hast. Du warst betrunken. Wenn du schon nicht bereit bist, mit dir selbst nachsichtig umzugehen, dann verschone wenigstens sie!«
Ich habe es Candace damals nicht erzählt, aber ich glaube, dass sie etwas vermutete. An jenem Abend sah sie mich beim Essen mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an, als habe sich etwas geändert, ohne dass sie es genau festmachen konnte. »Du bist heute Abend nicht du selbst«, sagte sie.
»Es ist nichts«, entgegnete ich heftig genug, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. »Ich habe nur Kopfschmerzen.«
»Brauchst du eine Tablette?«
»Ist schon okay«, wehrte ich ab.
»Ich habe dich gestern Abend angerufen. Du bist nicht rangegangen.«
Ich stocherte in meinem Essen herum und wich ihrem Blick aus. »Ich war mit Sean unterwegs«, erklärte ich. »Wir haben etwas getrunken.«
»Ich habe dich auch heute Morgen angerufen. Wo bist du gewesen?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass wir etwas getrunken haben. Ich habe eben meinen Rausch ausgeschlafen.«
Ich muss schuldbewusst ausgesehen haben, weil sie mich eine Minute lang musterte und dann fragte: »Gibt es noch etwas, was du mir erzählen willst?«
Ärger über ihre Frage stieg in mir hoch, und ich schnauzte sie an: »Allmählich reicht es mir mit dem Verhör.«
Sie zuckte zusammen. »Tut mir leid. Ich wünschte einfach, dass du aufhören würdest, so viel zu trinken.«
»Ich weiß«, sagte ich.
»Sean ist nicht gut für dich.«
»Ich weiß«, wiederholte ich.
Wir wandten uns wieder unserem Essen zu, als wäre nichts geschehen.
Zwölftes Kapitel
Schuldgefühle machen aus uns allen Fremde.
Aus dem Tagebuch von Luke Crisp
Als sich die Abschlussprüfungen näherten, erfüllten mich unzählige Emotionen, die alle den Abgrund zu vertiefen schienen, der sich zwischen meinem Vater und mir aufgetan hatte.
Natürlich trugen die Zeit und die Entfernung zu dem Graben, der zwischen uns klaffte, bei, aber ich musste erst einmal erheblich weiser und älter werden, um den eigentlichen Grund zu verstehen. Vielleicht war es ein Archetypus, so wie Adam, der sich vor Gott versteckt, nachdem er vom Baum der Erkenntnis gekostet hat. Aber irgendwie glaube ich, dass ich mich vor meinem Vater wegen dem versteckte, was aus mir geworden war. Obwohl ich nach außen hin alles abstritt, sowohl vor mir selbst als auch anderen gegenüber, empfand ich wegen meiner Entscheidungen riesige Schuldgefühle. Und Schuldgefühle entfremden uns immer voneinander. Die Wahrheit war, dass ich mich davor fürchtete, von meinem Vater abgelehnt zu werden, und ihn deswegen als Erster ablehnte.
***
Einen Monat vor meinem Abschluss rief mich Mary an, die Assistentin meines Vaters. »Luke, hier ist Mary. Dein Vater hat mich gebeten, dich wegen deines Abschlusses anzurufen. Wir müssen für ihn die Reisevorbereitungen treffen.«
Ich
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