Damals im Dezember
bemerkte ich, dass Sean, Marshall, Lucy und Candace alle um mich herumstanden.
»Was macht ihr hier?«, wollte ich wissen.
»Hast du das mit James gehört?«, fragte Candace.
»James? Wir wollten uns eigentlich heute Morgen auf ein paar Pfannkuchen treffen.«
Candace sah zu Marshall hinüber. Ihr Gesichtsausdruck beunruhigte mich.
»Was macht ihr hier?«, wiederholte ich. »Was ist los?«
Sean blickte mich mit trüben Augen an. »James hatte einen Unfall.«
Ich sah zwischen ihnen hin und her. »Was?«
»Gestern Abend«, erklärte Marshall. »Er ist von einem Betrunkenen angefahren worden.«
Schlagartig wurde ich munter. »Geht es ihm gut? Wo ist er?«
»Er ist tot«, informierte mich Candace.
Ich setzte mich auf. »Tot? Ich war … Ich war doch eben noch mit ihm zusammen. Wir wollten Pfannkuchen essen.« Ich sah von einem zum anderen. »Das kann nicht sein.«
»Es ist wahr«, sagte Candace.
Mir wurde schlecht. »Nein, das kann nicht sein.« Meine Augen füllten sich mit Tränen.
Candace setzte sich neben mich auf das Bett. »Es tut mir leid, Schatz.«
»Wenn ich mit ihm gegangen wäre …«, setzte ich an.
»Wenn du mit ihm gegangen wärest, dann wärest du möglicherweise auch getötet worden«, schaltete sich Marshall ein. »Er wurde von irgendeinem betrunkenen Typen angefahren, der seinen Abschluss gefeiert hat. Er hat hart gearbeitet, ist zur Kirche gegangen, hat an Gott geglaubt. Nichts davon hat ihn gerettet.«
»Die Guten sterben früh«, meinte Sean.
»Das ist nicht gerecht«, sagte Candace.
»Es geht dabei nicht darum, was gerecht und was ungerecht ist«, erwiderte Sean, »sondern darum, was ist und was nicht ist. Der Tod kann jederzeit kommen. Ob man es nun akzeptiert oder nicht, der Tod kommt trotzdem. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.«
***
Drei Tage nach unserem Abschluss nahmen wir an James’ Beerdigung in Philadelphia teil. Er wurde mit Talar bestattet; er war der erste in seiner Familie, der einen College-Abschluss gemacht hatte. Die Zeremonie war schlicht und kurz und berührte mich zutiefst. Die ganze Zeit musste ich mit den Tränen kämpfen. Candace hielt mich während der Aussegnung fest an der Hand. Anschließend gingen Candace und ich zu James’ Eltern, um mit ihnen zu reden.
»Unser herzliches Beileid«, sagte Candace zu ihnen. »James war ein guter Mensch.«
Die Augen seines Vaters waren verquollen und gerötet. »Er war ein guter Sohn«, sagte er. »Wir waren sehr stolz auf ihn.«
Alles, was mir einfiel, war: »Gott segne Sie.« Dann wandte ich mich ab. Danach gingen wir alle zu Sean und saßen in benommener Trauer im Wohnzimmer. Unser übliches Geplänkel und Gelächter war verstummt. Sean holte eine Flasche Bourbon und schenkte uns ein. Als wir die Flasche ausgetrunken hatten, sagte ich zu Sean: »Wir werden dich nach Europa begleiten.«
Candace sah mich an. »Was?«
»Wir werden mit ihnen nach Europa reisen«, bekräftigte ich.
Selbst durch ihren Kummer hindurch wirkte sie gequält. »Können wir darüber noch reden?«
»Nein. Ich habe mich entschieden.«
»Ich kann mir eine Reise nach Europa nicht leisten.«
»Das brauchst du auch nicht«, beruhigte ich sie. »Ich habe einen Treuhandfonds. Ich bezahl das für dich.«
Sie sah mich einen Moment lang an und entgegnete dann: »Das kannst du nicht machen.«
»Doch, das kann ich«, beharrte ich. »Sieh dir James an. Er hat sein Leben auf später verschoben und nie die Chance bekommen, es zu leben. Wir haben keine Zeit zu vergeuden. Wir müssen jetzt anfangen zu leben.« Ich wandte mich wieder Sean zu. »Ich komm mit. Meine Entscheidung steht.«
»Bravo«, sagte Sean.
Candace seufzte. »Also gut, wenn du fährst, fahre ich auch.«
»Dann ist es abgemacht«, schlug ich ein. »Wir fahren beide. Jetzt muss ich es nur noch meinem Vater sagen.«
Vierzehntes Kapitel
Heute habe ich meinem Vater das Herz gebrochen.
Aus dem Tagebuch von Luke Crisp
In Phoenix ist es im Sommer brütend heiß, aber als ich an der Zentrale von Crisp’s auf den Parkplatz fuhr, schwitzte ich vermutlich ebenso vor Nervosität wie wegen der Hitze. Mein Vater hatte das siebenstöckige Gebäude zwei Jahre vor meinem Studium an der Wharton gebaut und darin die Verwaltungsabteilungen von Crisp’s angesiedelt. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich beklommen, als ich durch die Eingangstüren des Unternehmens schritt.
Es war fast ein Jahr vergangen, seit ich meinen Vater das letzte Mal gesehen hatte. Ich wusste nicht recht,
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