Damals warst du still
einfach zu gefährlich. Das nächste Mal würde er es geschickter anstellen. Er sprang auf, bevor sie reagieren konnte, packte sein Rad und fuhr auf direktem Weg nach Hause ohne sich auch nur einmal umzudrehen.
Er hatte keine Angst. Er wusste, dass die Frau, vorausgesetzt, es gelang ihr, ihre Fesseln allein zu lösen, niemandem etwas sagen würde. In einer sozialistischen Republik gab es offiziell eigentlich keine Verbrechen, und an Vergewaltigungen (so drückte man es nicht aus, aber so dachten die meisten) waren Frauen in der Regel selber schuld. Und nicht einmal das war passiert. Stattdessen ein nicht sehr tiefer, nicht besonders stark blutender Schnitt, der nicht einmal als ordentliche Verletzung durchgehen würde: Keiner würde der Frau glauben wollen, bei dieser schlechten Beweislage. Und sie würde lieber alles vergessen, als sich einem peinlichen Verhör unterziehen, bei dem man hier zu Lande nie wusste, was es für Konsequenzen nach sich zog. Hier zu Lande ging man sehr, sehr ungern zur Polizei, es sei denn, man wollte seinen Nachbarn anschwärzen.
Und tatsächlich passierte nichts. Der Junge sah die Frau nie wieder; er erfuhr nie, wie sie hieß und woher sie kam. Aber er hatte eine Grenze überschritten. In Zukunft würde er sich perfektionieren. Die kleinen hässlichen Dämonen erwarteten das von ihm, aber das war längst nicht der einzige Grund. Der wahre Grund war: Er fühlte sich so gut danach wie schon lange nicht mehr. Gereinigt und beruhigt. Er war dabei gewesen, der Frau ihr Geheimnis zu entlocken. Zwar auf noch nicht perfekte Weise: Das Gewalttätige daran hatte ihm nicht gefallen, darum ging es ihm auch nicht. Aber er war diesmal nicht ausgeflippt, hatte nicht – wie es ihm früher mit den Tieren passiert war – unbeherrscht wie ein Berserker an ihrem Körper herumgefuhrwerkt und dabei alles zerstört, sondern er war ruhig und planvoll vorgegangen, präzise wie ein Chirurg. Ästhetisch, nicht barbarisch.
Ein paar Tage später änderte sich allerdings seine Stimmung. Es war wieder ein warmer Abend, seine Mutter hatte Nachtdienst, außer ihm war niemand im Haus, das ihm plötzlich sehr groß und leer erschien. Bena hatte sich nicht mehr bei ihm gemeldet und war ihm in der Schule aus dem Weg gegangen, hatte sich in der Pause stattdessen zu Pauls Clique gesellt, und Paul hatte den Arm um sie gelegt, was ihre Beziehung offiziell machte. Vielleicht lag es daran, dass sich ihm an diesem Abend etwas, das von entfernt an ein schlechtes Gewissen erinnerte, bleischwer auf den Magen legte. Jedenfalls wurde ihm klar, und das war wie ein Schock, dass er sich jeden Weg zurück in die normale Welt verbaut hatte. Er war ein Freak, ein Außerirdischer, ein Fremder. Sein Gefühl, nicht dazuzugehören, hatte sich auf einzigartige Weise materialisiert. Der ultimative Beweis war die Frau mit ihrem nackten weißen Bauch und ihrem schwarzen Schamdreieck, wie sie wehrlos vor ihm im Mondlicht lag. Er machte sich nun nichts mehr vor: Egal, ob die Frau redete oder nicht, egal ob man ihr glaubte oder nicht, er hatte jenes Tabu gebrochen, das so mächtig war, dass es nicht einmal in Worte gefasst werden konnte.
Jeder anständige Mensch würde ihn zutiefst verachten für das, was er getan hatte. Niemand würde ihn verstehen.
Das war großartig und unheimlich: Er war nun endgültig ganz allein. Und das würde sich nie wieder ändern.
28
Mittwoch, 23. 7., 23.11 Uhr
David lief durch die Straßen der Stadt. Er hatte seine Schuhe ausgezogen, weil sie schwer von Nässe waren und ihn auf seinem Weg wohin auch immer nur behinderten. Das Gewitter tobte nun schon stundenlang, als hätte es sich direkt über ihm zusammengezogen, als meinte es David Gerulaitis persönlich , den Mann, der seine Schwester geschändet und entehrt hatte und nun endlich seine gerechte Strafe dafür erhielt. Es blitzte und donnerte, Sprühregen ergoss sich aus endlosen Schleusen, verschwand gurgelnd in den Gullis, die wenigen Autos, die noch unterwegs waren, schleuderten fächerförmige Wasserfontänen auf die Bürgersteige. David wurde mehr als einmal getroffen, was ihm völlig egal war.
Seine Lippen waren blau und zitterten, zu Hause saß Sandy mit ihrem gemeinsamen Kind und ärgerte sich wahrscheinlich grün und blau, weil es schon so spät und er immer noch nicht zu Hause war, und das war ihm nicht egal, wirklich nicht, aber er konnte nicht zurück, vielleicht nie mehr. Er musste diesen Auftrag zu Ende bringen (es kam nicht in Frage, KHK Seiler
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