Damals warst du still
Familie?«
»Nein! Ich kann da jetzt nicht hin! Ich bin ein Wrack.«
»Eben deswegen«, sagte Mona sanft. »Lassen Sie sich aufbauen. Von Ihrer Frau.« Er war doch verheiratet, oder nicht? Mona konnte sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit erinnern.
»Das ist doch Scheiße! Ich darf Sandy nicht mal erzählen, was los ist! Wie soll die mich aufbauen, wenn ich nicht sagen darf, was los ist?«
»Okay«, sagte Mona langsam, »dann sagen Sie es mir.«
»Hier? Am Telefon?«
»Sicher. Wo sonst? Sagen Sie mir, was los ist, und dann denken wir gemeinsam nach. Okay?«
Lange Pause. Dann: »Ich hatte Sex mit meiner Schwester. Fabian weiß das jetzt.«
»Oh!«
Sie hatte nicht geahnt, dass er derartige Probleme mit sich herumschleppte. Natürlich nicht. Hätte sie es geahnt, hätte sie ihn niemals für diesen Job eingesetzt.
»Ich war achtzehn, sie war vierzehn.«
»Also...«
»Ich liebe sie immer noch. Ich werde immer nur sie lieben. Sie ist heute süchtig. Abhängig. Das ist meine Schuld.« Das Telefon klickte; Gerulaitis hatte die Verbindung unterbrochen. Mona wählte die Nummer auf dem Display an, aber entweder befand er sich plötzlich in einem Funkloch, oder er hatte sein Handy ausgeschaltet: Sie erreichte nur seine Mailbox. Sie überlegte, ob sie ihm eine Nachricht hinterlassen sollte. Schließlich sagte sie: »Bitte rufen Sie mich zurück, David. Lassen Sie uns darüber reden. Bitte!« Sie hörte ihre eigene Stimme wie ein Echo. Sie legte auf und hoffte, dass er wieder anrufen würde: Sie musste ihn sofort von diesem Auftrag befreien. Aber so wie sie ihn einschätzte, würde er das nicht zulassen. Er war kein Typ, der davonlief. Er würde darauf bestehen, seinen Job zu Ende zu bringen.
Es war mittlerweile halb elf. Sie stand auf und öffnete das Fenster. Kalter Regen spritzte ihr ins Gesicht, und in Sekundenschnelle war das Vorderteil ihres T-Shirts durchnässt. Mona schloss die Augen und öffnete den Mund. Das Wasser prickelte auf ihrer Zunge; es schmeckte herrlich kühl.
Was , dachte sie, soll ich jetzt nur tun?
27
1988
In der Vergangenheit hatte der Junge das Wort Liebe benutzt wie eine leere Vokabel, die dazu diente, seine wahren Absichten zu verschleiern und gleichzeitig anderen den Eindruck zu vermitteln, dass er wusste, wovon er sprach. Dass er dazu gehörte. Jetzt begann er zu ahnen, was Liebe wirklich bedeutete: ein gefährliches Durcheinander in seinem Kopf, das ihn in Besitz nahm und so verwirrte, dass er an manchen Tagen – Bena-Tage nannte er sie – nicht enden wollende Durchfälle bekam und kaum noch etwas essen konnte. Wenn Bena ihm nahe kam, schienen sich all seine Sinne auf sie zu fokussieren, als wäre sie eine herrschsüchtige Göttin, die keine anderen Gefühle neben sich duldete. Trotzdem wäre er nie auf die Idee gekommen, sie anzufassen. So wie er war, verbot sich das ohnehin von selbst, und irgendwie, fernab jeder Logik, glaubte er, dass Bena das verstand und guthieß: Bena und er, dachte er, brauchten den körperlichen Kontakt nicht, denn ihre Seelen waren bereits vereinigt. Bis zu dem Tag – ein Sonntag mitten im August -, an dem sie ihn betrog.
So sah er das.
Später – zu spät – begriff er, dass Bena ihn keine Sekunde lang verstanden hatte. Ihre Gemeinsamkeit der Seelen hatte er sich nur eingebildet. Bena war nichts Besonderes, sie hatte keine einzigartigen Gaben, und sie war auch nicht seine Schwester im Geiste. Im Gegenteil. Sie unterschied sich in nichts vom Rest der Welt, sie war nur attraktiver als die anderen Idioten um ihn herum – und manchmal, in schwarzen Stunden, lachte er laut über sich und seine grenzenlose Dummheit, die ihn damals beinahe hätte leichtsinnig werden lassen.
Es war bis dahin ein kalter, nasser Sommer gewesen, den man schon aufgegeben hatte. Doch dann, um den zwanzigsten August herum, hatte sich das Wetter von einem Tag auf den anderen beruhigt, die regenschweren Sandböden trockneten im Nu, die Temperaturen erreichten die 30-Grad-Marke, und am dritten heißen Tag begann der Junge wieder einen seiner Streifzüge im Wald, die ihn immer weniger befriedigten. Bena hatte er erst morgens gesehen. Sie hatten zusammen eine Comicserie im Westfernsehen angeschaut, dann war sie zum Mittagessen nach Hause geradelt. Nachmittags wollte sie Hausaufgaben machen. Angeblich.
Ihm war das gar nicht so unrecht. Seine hässlichen, kleinen Dämonen – so nannte er sie mittlerweile: hässliche, kleine Dämonen, der Name machte sie fassbarer und auf
Weitere Kostenlose Bücher