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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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je weniger sie vorher darüber nachdachte, desto besser.

11
    1988
    Der Junge erholte sich erstaunlich schnell von seinem ersten Selbstmordversuch. Tatsächlich konnte er sich noch am Abend desselben Tages in der Klinik nicht mehr wirklich daran erinnern, weshalb er sich eigentlich hatte umbringen wollen. Das hieß allerdings nicht, dass er seinem Schicksal (in Form seiner Mutter, die ihn in der Badewanne gefunden hatte, als sie pinkeln gehen wollte) dankbar war. Vielmehr nahm er es relativ emotionslos hin, dass er nun doch weiter auf der Welt sein würde, und da dies nun einmal der Fall war, würde er sich sein Leben auch nach seiner Façon gestalten. Am nächsten Morgen besuchte ihn Bena, die nur erfahren hatte, dass er »einen Zusammenbruch« erlitten hatte. Dem Jungen war ihre Anwesenheit sehr unangenehm, aber da er ihr in dieser Situation nicht entkommen konnte, nahm er Zuflucht zu seiner antrainierten Höflichkeit, die alle Bemühungen Benas, wieder Zugang zu ihm zu finden, umgehend zunichte machte. Eine halbe Stunde später verabschiedete sie sich traurig und vollkommen ratlos, und das blieb der letzte Kontakt zwischen ihnen beiden.
    Einige Monate vergingen, in denen nicht viel passierte. Herbst und Winter waren nicht besonders kalt, aber so nass, dass sich weitere Aktionen von selbst verboten. Ohnehin hatte der Fall des toten kleinen Mädchens per Flüsterpropaganda ein derartiges Aufsehen erregt, dass auch offizielle Stellen sich gezwungen sahen, eine zwar sehr allgemein gehaltene, aber doch deutliche Warnung vor Mördern und Sittlichkeitsverbrechern zu veröffentlichen. Die Tipps waren zwar für potienzielle Opfer wenig hilfreich (auf die Idee beispielsweise, menschenleere Gegenden zu meiden, kam man auch von allein), aber immerhin würde sich der Junge künftig vorsehen müssen.
    So verbrachte er seine Freizeit vorzugsweise in seinem Zimmer, auf dem Bett liegend, sich seinen Fantasien hingebend. Die Tatsache, dass nun auch andere Menschen zumindest theoretisch wussten, dass unter ihnen jemand lebte, der fremd und gefährlich war, machte dem Jungen einerseits Angst und schmeichelte ihm andererseits. Eine prekäre Balance: Er nahm sich nun als Abenteurer auf einer riskanten Expedition wahr. Das Einzige, was ihm noch fehlte, war ein Ziel. Alle Abenteurer, egal ob sie zu Fuß zum Südpol oder in den wilden Dschungeln Afrikas unterwegs waren, taten das nicht einfach so. Sie hatten alle ein Ziel, zumindest aber wollten sie etwas erfahren: über das Land an sich und über ihre Leistungsfähigkeit und ihre Grenzen.
    Er hingegen hatte ein kleines Mädchen umgebracht. Er hatte sie nicht wirklich getötet, aber ohne ihn wäre sie noch am Leben, das war Fakt. Andere Menschen taten so etwas nicht, das war ebenfalls Fakt. Warum er? Woher kam dieser Drang, den andere als abartig empfinden würden? Warum empfand er kein Mitleid wie zum Beispiel seine Russisch-Lehrerin, die mit tränenerstickter Stimme seiner Klasse von »dem entsetzlichen Verbrechen an einem wehrlosen kleinen Mädchen« berichtet hatte?
    Das Mädchen gehörte zu den Schemen, und für Schemen konnte er keine Gefühle aufbringen. Nicht nur das, er glaubte auch den Schemen ihre Gefühle nicht. Sie redeten zu oft und zu viel davon. Du bist immer so beherrscht, hatte Bena einmal gesagt, damals, als sie noch viel zusammen waren. Als würdest du nichts wirklich an dich heranlassen. Sei doch mal locker, geh aus dir raus! Sei du selbst! Er selbst? Der Junge hatte darauf nicht geantwortet aber unbestimmt gelächelt, wie er seit ein, zwei Jahren immer lächelte, wenn es darum ging, sein wahres Ich, seine Schattenexistenz zu verbergen. In diesem Fall hatte es nichts genutzt, das hatte er an ihrem irritierten Gesichtsausdruck gesehen. Bena, die einzige Person, die ihm je etwas bedeutet hatte, hatte er nicht täuschen können, auch wenn sie nicht ahnte, was wirklich in ihm steckte.
    Eines Abends ging seine Mutter aus. Sie zog sich ein Kleid an, das nicht besonders gut saß, weil sie in den letzten Jahren eine Menge abgenommen hatte, aber immerhin besser aussah als die verbeulten Hosen und überweiten T-Shirts, in denen sie gewöhnlich auf dem Sofa herumlümmelte, die Flasche immer in Griffweite. Heute aber schminkte sie sich sorgfältig vor dem Spiegel in der Küche, bis es vor der Haustür hupte. Ohne sich von dem Jungen zu verabschieden, der stumm am Küchentisch saß und sie beobachtete, nahm sie ihre Handtasche und ging hinaus. Instinktiv spürte der Junge, dass

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