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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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dazu, dass er sich durch den halben Packen arbeitete. Und nach zwanzig Minuten auf jenen Brief stieß, der ihm später einmal alles zu erklären schien – selbst seine fremdartigen Wünsche und Begierden.
    Doch so weit war er jetzt noch nicht. Jetzt las er nur mit wachsender Spannung eine jener Geschichten, die sich vermutlich im Bodensatz jeder Familienlegende befinden und in aller Regel dem kollektiven Vergessen anheimfallen. Mehr als je war dem Jungen bewusst, dass er etwas Verbotenes tat, und er genoss es. Als er fertig war, faltete er das Schriftstück zusammen und versteckte es in einem seiner Schulbücher. Die übrigen Briefe wickelte er in altes Zeitungspapier und stopfte sie dann doch in den Mülleimer.
    Nachts erwachte er von dem polternden Geräusch unsicherer Schritte. Er hörte das Wispern seiner Mutter und eine tiefere Stimme. Er hasste diese Stimme schon jetzt. Zornig starrte er in die Dunkelheit, fantasierte von einem gefesselten, durch geeignete Mittel wehrlos gemachten Mann, den er langsam töten würde. Allmählich fielen dem Jungen die Augen zu. Er befand sich auf einer breiten grauen Straße, die sich schnurgerade bis zum Horizont zog. Ein etwa achtjähriger Junge mit sehr blonden Haaren, so blond wie seine eigenen einmal gewesen waren, kam ihm mit unsicheren kleinen Schritten entgegen und sagte: »Komm mit mir. Ich kenne die schönsten Spiele der Welt.« Auch ihm fehlte der Zeigefinger der linken Hand, und auch sein Fuß war ganz leicht nach innen abgewinkelt. Dem Jungen kam es vor, als läge in dieser Erscheinung eine besondere Botschaft, aber er konnte sie nicht entschlüsseln.
    Noch nicht.

12
    David hatte jedes Zeitgefühl verloren, und vielleicht war das eine ganz sinnvolle, sogar gnädige Abwehrreaktion von Körper und Geist: Seine Qualen hatten einen Grad erreicht, dass er sie kaum noch als solche wahrnahm. Er zog sich in sich selbst zurück, an einen geheimen Ort, den selbst die schlimmste Folter nicht erreichen konnte. David Gerulaitis gab es nicht mehr. Es gab ein namenloses Wesen, das in Bildern dachte (wilde, bunte Bilder waren das!) und sich reduzierte auf die allerelementarsten Bedürfnisse. Hunger und Durst waren viel zu komplex für dieses Wesen. Es war schon zufrieden mit der temporären Abwesenheit von Übelkeit und Schmerz, ein gesegneter Zustand, der durch minimale Bewegungen und Positionsverschiebungen manchmal erreichbar war. Es registrierte so wenig wie möglich von der Wirklichkeit: eine lange Autofahrt über eine Schotterpiste – Schmerz! Den kalkigen Geruch eines leicht modrigen Kellers – Übelkeit!
    Dann nichts mehr.
    Dann eine Frauenstimme, die das Wesen einmal gekannt, aber nun wieder vergessen hatte.
    Dann Stille.
    Langsames Erwachen in einer Welt, in der Leid und Pein das Regiment übernommen hatten. Das Wesen schloss die Augen. In so einer Welt wollte es nicht leben. Es versuchte, in sein kleines Refugium ganz tief in ihm drin zurückzukehren, aber das funktionierte nicht mehr. Widerwillig bewegte es sich durch einen langen, hässlichen Gang in die Gegenwart. Das Wesen war nun wieder David, es hatte einen schweren, unbeweglichen Körper (der zu nichts nutze war, da Hände und Beine gefesselt waren), und es sah in totale Dunkelheit.
    »Hallo«, sagte das Wesen namens David, aber David hörte keinen Laut. Sein Bewusstsein kehrte zurück, die fiebrigen Visionen verschwanden. Einen Moment lang war er erleichtert. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er feststellte, dass etwas in seinem Rachen stak und ihn beim Atmen behinderte. Er schmeckte nassen Baumwollstoff. Eine Erinnerung wurde wach: an seinen Vater, der ihm die Tränen mit einem Stofftaschentuch trocknete, als er noch ganz klein war. Er versuchte, seine Lippen zu bewegen, aber etwas klebte auf seinem Mund. Keine Panik, dachte er und atmete sorgfältig durch die Nase. Ganz ruhig. Ein und aus und ein und aus. Sein Kopf tat furchtbar weh und ihm war elendig schlecht, aber daran durfte er nicht einmal denken, denn Brechreiz konnte jetzt seinen schnellen Tod bedeuten.
    Am besten war es, nichts zu tun. Er hatte einmal ein Polizeiseminar belegt, wo es darum ging, wie man »gefährliche Situationen für Leib und Leben« meisterte. In der gefährlichen Situation, in der er sich jetzt befand, war Nichtstun das Allerbeste. Er konnte sich nicht befreien. Er lag seitlich, eine Wange auf den kalten Steinboden gepresst, und das war die einzige mögliche Position, da seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Auch seine

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