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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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diese erste richtige Verabredung seit langer Zeit nicht nur im Leben seiner Mutter etwas ändern würde. Ein leichter Anflug von Panik überkam ihn.
    Er ging zum Schreibtisch seiner Mutter, der in ihrem Schlafzimmer stand, und begann ihn methodisch zu filzen nach irgendeinem Hinweis, wer dieser Mann sein könnte, der offenbar dabei war, sich in ihr Leben zu drängen. Dabei stieß er ganz hinten in der Ecke einer Schublade auf ein dickes Bündel zusammengehefteter Umschläge. Er zerrte es hervor und stellte enttäuscht fest, dass es uralte Briefe seiner Großmutter an seinen Vater waren. Er warf sie hinter sich auf den Boden und suchte noch eine halbe Stunde weiter, ohne etwas zu finden, das ihn interessiert hätte.
    Schließlich stopfte er alles in die Schubladen zurück (seine Mutter war so unordentlich mit ihren Sachen, dass sie bestimmt nichts merken würde) und stand auf. Sein Blick fiel auf ihr ungemachtes Bett. In der Kuhle zwischen Kissen und Decke lag zusammengeknüllt ein zart und seidig aussehendes, lachsfarbenes Etwas, das mit Sicherheit aus einem Intershop stammte. Seine Mutter besaß die dafür notwendigen Devisen nicht, also musste es ein Geschenk sein. Und allein dessen Vorhandensein sagte mehr aus als zehn Liebesbriefe. Der Junge ging zum Bett und hob das kurze Nachthemd, das er noch nie an seiner Mutter gesehen hatte, ans Gesicht. Es müffelte leicht nach ihrem spezifischen Körpergeruch, der ihn anzog und abstieß zugleich. Verächtlich warf er das Teil wieder aufs Bett und wollte das Zimmer verlassen. Gerade noch rechtzeitig entdeckte er die Briefe seiner Großmutter, die er auf den Boden geworfen hatte.
    Er bückte sich und nahm sie mit, um sie wegzuwerfen. Seine Mutter hatte sie bestimmt kein einziges Mal gelesen und würde sie nicht vermissen, und sie wegzuwerfen war einfacher, als die Schublade erneut auszuräumen, um das Bündel wieder dahin zu schieben, wo er es gefunden hatten. Dann überlegte er sich, dass es doch einigermaßen auffällig war, die Briefe einfach in den Müll zu werfen. Sollte seine Mutter sie dort entdecken, würde sie wissen, dass er an ihren Sachen gewesen war – etwas, das sie hasste, wahrscheinlich, weil ihr ihr eigenes Chaos peinlich war.
    Deshalb trug er die Briefe in sein Schlafzimmer, wo er sie unter der Bettdecke deponierte. Er machte sich ein Brot mit Butter und Wurst und aß es hastig im Stehen, während die Krümel, von ihm unbemerkt, auf den Küchenboden fielen. Danach würgte er einen halben Liter kalte Milch herunter. Er war nervös, und seine Glieder kribbelten, dass er am liebsten um sich getreten hätte. Es war so anstrengend, sich dauernd zusammenzureißen. Manchmal kam er sich vor wie ein Hund, der Tag und Nacht an der Kette lag, und nicht einmal bellen durfte. Draußen prasselte der Regen mit einer Ausdauer, als ginge es darum, den halben Landstrich unter Wasser zu setzen. Das bedeutete, dass er auch heute Abend nichts unternehmen konnte. Seine Sinne schärften sich auf unangenehme Weise, wie immer, wenn es bei ihm wieder »so weit war«. Er öffnete ein Fenster, weil er hoffte, dass ihn die kühle, nach Wald riechende Luft beruhigen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Er zog sich seinen Anorak an und lief an den See, der in der nassen Dämmerung zu schimmern schien. Er sah hinaus auf die glatte Fläche, auf der sich Myriaden von Tropfen bildeten und wie durch Zauberhand wieder verschwanden, um anderen Platz zu machen. Er lief am schlammigen Ufer entlang, ungeachtet der Tatsache, dass er für das Wetter nicht die richtigen Schuhe trug. Bald war er vollkommen durchnässt und zitterte.
    Er nahm eine Abkürzung durch den Wald nach Hause. Natürlich begegnete er niemandem, und schon gar keinem potenziellen Opfer. Trotzdem fühlte er sich besser, weniger angespannt, als er das windschiefe Gartentürchen aufstieß und den Hausschlüssel aus der Hosentasche unter dem Anorak nestelte. Im Bad schälte er sich aus seinen nassen Kleidern und nahm eine heiße Dusche. Danach klaute er eine Zigarette von seiner Mutter, zündete sie an und begab sich in sein Schlafzimmer. Es war erst neun Uhr, zu früh, um zu schlafen. Unter der Bettdecke fand er das Bündel Briefe. Er zog die dünne Paketschnur ab, mit der es nachlässig zusammengebunden war, nahm wahllos einen der Briefe heraus und öffnete ihn. Die Schrift seiner Großmutter war groß und sehr leicht zu lesen. Diese Tatsache und dass er nicht wusste, was er mit diesem Abend sonst anfangen sollte, führte

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