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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Hosentasche. Mit erstaunlicher Grazie ließ sie sich in den Schneidersitz fallen und zog den Schlitz der Mütze unter das Kinn. Es war tatsächlich Sabine. Sie klopfte auf die halb leere Schachtel, und eine Zigarette rutschte heraus, die Sabine zwischen die Lippen nahm. Sie zündete sie an und blies den Rauch direkt in Davids Richtung. Er kitzelte in seiner Nase. David musste niesen – eine unangenehme Prozedur, weil er so unbeweglich war. Sabine lachte heiser. David spürte seinen Körper, seine mit Klebeband gefesselten Hände, seine tauben Füße. Nun bewegte er sich doch, zornig über seine Wehrlosigkeit, die ihn zum Gefangenen dieser – verrückten Idiotin machte. Warum tat sie das alles? Was machte sie überhaupt hier? Wollte sie ihm beim Sterben zuschauen? Er wand sich auf den Rücken, dann, als er die Schmerzen in den Händen nicht mehr aushielt, auf die andere Seite. Dann wieder zurück, sodass er Sabine wieder sehen konnte, die seelenruhig vor sich hin rauchte und ihn überhaupt nicht zu beachten schien.
    Schließlich drückte sie die Zigarette auf dem Boden aus und schnippte sie dicht an David vorbei unter den Heizkessel. Sie kniete sich hin und beugte sich über Davids Gesicht, ihre Augen und ihr Mund wirkten verquollen und alt. Mit einer einzigen schmerzhaften Bewegung riss sie das Klebeband von seinen Lippen. David schossen die Tränen in die Augen, aber er wagte keinen Laut, bis sie das feuchte Tuch aus seinem Mund entfernt hatte. David hustete. »Durst«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme, bevor sie ihm das Ding wieder hereinstopfen konnte, was sie früher oder später tun würde. Dessen war er sich sicher. Und auch, dass sie ihn nicht freiwillig herauslassen würde. Nie. Sie hatte ihre Maske abgenommen, als käme es nicht mehr darauf an, ob er sie erkannte oder nicht, und das konnte nur bedeuten, dass sein Tod beschlossene Sache war.
    Seine einzige Chance bestand darin, lange genug am Leben zu bleiben, bis ihn jemand vermisste. Bis ihn jemand suchte. Bis ihn jemand fand.
    »Du kannst übrigens schreien, so laut du willst«, sagte Sabine, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Hier hört dich eh keiner.«
    Warum sie ihn dann geknebelt hatte? David fragte nicht. Vielleicht einfach nur, um ihn zu quälen. Sabine zog ihre Mütze mit einer achtlosen Bewegung ganz vom Kopf und warf sie in die Ecke, in der der Rucksack stand. Ohne Mütze war deutlich zu erkennen, wie blass sie war, mit wirrem, fliegendem Haar, ohne Make-up, ohne Lippenstift. Letzteres fiel David besonders krass auf, denn während des Seminars war sie immer sorgfältig geschminkt gewesen. »Wo bin ich?«, krächzte er, damit sie nur ja nicht ging und ihn hier allein ließ. Sobald sie gehen würde, wäre er zum Tode verurteilt, das wusste er genau. Sabine stand auf und schlenderte zu ihrem Rucksack. Einen Moment lang befürchtete David, dass sie den schwarzen Beutel schultern und einfach verschwinden würde, und beinahe hätte er lautstark protestiert. Aber stattdessen bückte sich Sabine und kramte in dem Behälter herum. Schließlich zog sie eine Wasserflasche heraus und ging zu David zurück.
    »Mund auf!«
    David sperrte gehorsam den Mund auf, und Sabine setzte die Flasche an. David trank gierig. Da er auf der Seite lag, ging eine Menge Wasser daneben und durchnässte sein Sweatshirt, aber das war ihm egal. Wenn sie ihm zu trinken gab, hieß das, dass sie ihn noch am Leben lassen wollte . Ein gutes Zeichen , dachte David, wärend er das abgestanden schmeckende Wasser schlürfte, als wäre es Champagner. Ein gutes Zeichen, ein gutes Zeichen, ein gutes ...
    Sabine nahm ihm das Wasser weg, obwohl sein Durst noch lange nicht gestillt war.
    »Bitte«, flüsterte David; seine Lippen waren noch ganz nass, er leckte sie gierig ab.
    »Bitte – mehr.«
    Sabine schloss die Flasche mit dem blauen Drehverschluss, als hätte sie nichts gehört, aber David gab nicht auf. »Bitte, gib mir noch was. Bitte!« Es gab plötzlich nichts Wichtigeres als diese erst halb leere Flasche, die Sabine in der Hand hielt, als wäre sie etwas vollkommen Nebensächliches. Rote Nebel wallten vor Davids Augen auf, seine Kehle fühlte sich an, als würde jemand einen Dornenzweig durch sie ziehen, und das Einzige, was ihm helfen konnte, ließ Sabine gerade wieder in ihrem Rucksack verschwinden. Ein trockenes Schluchzen schüttelte David, eine Mischung aus Wut und Verzweiflung.
    Nein! So starb man einfach nicht!
    »Sabine!«, hörte

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