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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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tropften. Jetzt musste ihm niemand mehr sagen, dass er sich auf gefährliches Terrain begab. Er erschauerte. Tiere waren Tiere, Menschen etwas ganz anderes. Er schloss die Augen und vollzog Nacht für Nacht den Schritt, der ihn endgültig vom Rest der Welt trennte. Die Visionen seiner Kindheit kehrten mit Macht zurück. Schwarze Flügelfiguren suchten ihn heim und flüsterten ihm Versuchungen ein, in denen es um Blut und Erkenntnis ging: um das, was sich hinter lächelnden Masken, unter schimmernder Haut verbarg. Die Wahrheit. Er wehrte sich nicht länger dagegen.
    An den freien Wochenenden ging er wieder auf die Jagd. So nannte er das mittlerweile für sich, obwohl es nie darum ging, eine essbare Beute nach Hause zu bringen. Er freundete sich mit einem alten Mann an, der ganz am Ende der Lagune in einem stets feuchten und muffigen Haus direkt vor dem dichten Schilfgürtel des Sees lebte. Der Mann besaß eine alte, aber funktionstüchtige Schrotflinte und sogar noch Munition. Beides war Vorkriegsproduktion, funktionierte aber erstklassig und so brachte der Mann dem Jungen das Schießen bei. Privater Waffenbesitz war zwar keineswegs erlaubt, aber es gab auf dem Land eine Menge Leute wie den alten Mann – und kein Mensch regte sich über einen leckeren Kaninchenbraten auf, solange er nicht wusste, woher er stammte.
    Der Junge erwies sich als geschickt, und der Alte, dessen Augen immer schlechter wurden, überließ ihm schließlich seine Waffe ganz. Der Junge begab sich auf die Pirsch und schoss Rehe, Reiher, Kaninchen, Ratten. Bei jedem erlegten Tier erlebte er aufs Neue die Lust, einen intakten Körper zu öffnen und zu betrachten, was sich darin verbarg. Seine eigene wilde Zerstörungswut, die ihn jedes Mal überfiel, sobald das Messer die Haut geritzt hatte, bekam er im Lauf der Zeit ganz gut in den Griff.
    Nachts dachte er daran zurück, und die Erregung ließ ihn aufstöhnen. Die Erinnerung an das Tier vermischte sich mit den Bildern von weißer Menschenhaut. Tags darauf streifte er wieder durch den Wald, um diese Bilder zu verscheuchen. Sie waren nicht nur verboten, sondern durch ein so machtvolles Tabu belegt, dass es nicht einmal ausgesprochen werden musste. Nachts war der Schritt aus der Welt heraus leicht, am Tag stellte sich alles in anderem Licht dar. In seinen wachen Momenten erfasste den Jungen eine Angst von so elementarer Wucht, dass es ihn schüttelte. Er wusste, seine Fantasien waren die Fantasien eines Aussätzigen, aber er konnte sie nicht abstellen. Manchmal überfiel ihn die Furcht vor dem, was in ihm war, auch nachts, dann stellte er sich um zwei Uhr morgens unter die kalte Dusche, lief anschließend ins Freie und wälzte sich im stachligen Gras bis sein ganzer Körper schmerzte. Manchmal lief er auch die hundert Meter durchs Dorf ans Ufer des stillen schwarzen Sees und stürzte sich in sein eisiges Wasser.
    Aber er ertrank nicht. Er fand immer wieder zurück. Tapste an Land über den modrigen Grund, der durchsetzt war mit tückisch spitzen Steinen, aber der Schmerz war ihm willkommen, denn er ließ ihn vergessen, zwang seine wilden, verführerischen Gedanken wie Soldaten ins Glied zurück: Schlotternd vor Kälte und Erleichterung rannte er zurück in sein dunkles Elternhaus, trocknete sich mit hastigen Bewegungen ab und konnte danach endlich tief und traumlos schlafen. Am nächsten Morgen fühlte er sich dann in der Regel erholt und beinahe froh, wenn ihm auch mittlerweile klar war, dass sich die Gefühle auf diese Weise nur vorübergehend bändigen ließen. Irgendwann würden sie zurückkommen, und sie würden wieder eine Nuance kraftvoller sein. Ein weißer Arm mit feinen blonden Härchen, ein schlanker, wehrlos preisgegebener Hals, kräftige nackte Beine unter engen Shorts – es brauchte so wenig, um die schlafenden Hunde in ihm zu wecken. Sie würden ihre Reißzähne fletschen, seinen Kopf ausfüllen mit ihrem gierigen Brummen und Knurren. Sie würden sich seiner bemächtigen bis zu dem Augenblick, wo er sich ihnen ergab, willenlos, weil sie ja doch stärker waren als sein vernünftiges Ich.
    Ein Morgen, einer unter vielen. Noch im Bett, wo er sich einigermaßen sicher fühlte, schloss er die Augen vor der Notwendigkeit aufzustehen. Er wusste, gleich würde er die Stimme seiner Mutter hören, und dann würde ein neuer, harter Tag beginnen. Er holte tief Luft und überlegte, wie es wäre, wenn er einfach aufhören würde zu atmen. Er würde sterben. Es wäre ganz leicht. Er müsste nur

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