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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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jetzt – oder jetzt – oder jetzt – die Luft anhalten. Oder einfach ausatmen, und es dabei bewenden lassen.
    Schritte kamen an sein Bett.
    »Wach auf«, sagte seine Mutter. »Schule«. Er schlug die Augen auf und atmete weiter. Sie stand vor seinem Bett und bedachte ihn mit diesem müden Blick voller Abneigung, den er ihr aus voller Seele zurückgab. Ihre Augen waren verquollen, ihr braun gefärbtes Haar war an den Ansätzen beinahe weiß, ihre Haut war die einer schweren Trinkerin: fahl, fleckig, alt. Selbst ihr Mund wirkte eingefallen. Aber eine halbe Stunde später würde sie wieder aussehen, wie man sie in der Klinik kannte: blitzwach und unbarmherzig gegenüber jeder Schwäche, jeder Unachtsamkeit.
    Nur ihn konnte sie nicht täuschen. Er wusste genau, wie sie war. Langsam schlug er die Decke zurück – er wusste, dass sie es hasste ihn nackt zu sehen -, langsam stand er auf und ging auf sie zu, mittlerweile fast so groß wie sie. Der mit dunkelbrauner Auslegeware bedeckte Holzboden knarrte unter seinen Füßen. Seine Mutter senkte den Kopf wie besiegt und wich ihm bis hinter das Fußende des Betts aus. Das lag an seiner Größe. Bald würde er auf sie herunterschauen können, und was dann passieren würde, falls sie ihn weiter so behandelte, würde er nicht sagen können.
    Er ging an ihr vorbei ins Bad. Sein Körper brannte immer noch vom kalten Bad in der letzten Nacht. Er bekam eine Erektion. Er schloss die Tür hinter sich ab, rieb ergeben seinen Schwanz und wartete wie ein Verurteilter auf die schmerzhafte Explosion, die ihm keine Erleichterung bringen würde.

30
    Donnerstag, 17. 7., 16.53 Uhr
    »Herr Gerulaitis?«
    »Ja?«
    »Hier spricht KHK Seiler. Erinnern Sie sich an mich?«
    »Ja. Sicher. Ich weiß aber immer noch nicht mehr, als ich Ihnen schon erzählt habe. Deshalb hab ich Sie auch nicht angerufen.«
    »Macht nichts. Ist egal. Haben Sie Zeit, ins Dezernat zu kommen? Heute noch?«
    »Wieso?«
    »Das sag ich Ihnen dann. Um sieben in meinem Büro?«
    »Äh...«
    »Halb acht?«
    »Nein. Sieben ist gut. Ich bin da.«

31
    Freitag, 18. 7., 4.10 Uhr
    Camouflage nannten sie es, wie beim Militär: Ein ausschlaggebender Faktor für den Erfolg ihrer Tätigkeit war die perfekte Verkleidung. Janoschs Tarnung bestand aus langen Dreadlocks, die er zu einem buschigen Zopf gebunden hatte. Sein Outfit war entsprechend bunt und abgerissen. Deshalb hieß er Bobby M. M. wie Marley. Davids dichtes schwarzes Haar war millimeterkurz geschoren, er trug teure, weite Designerjeans, T-Shirts auf denen »Boss«, »Armani« oder »Dolce & Gabbana« stand, und eine Lederjacke, der man den Preis ansah; er wurde Chico genannt. Alle verdeckten Ermittler der sechsköpfigen Einheit hatten Spitznamen. Karate-Kid, Cowboy, Gringo, Tiger. Nur die Partner der Zweierteams nannten einander mit richtigen Namen. Sieben Abende hintereinander waren sie eine eingeschworene Gemeinschaft, dann gab es aufgrund ihrer Nachtdienste eine Woche vom Staat verordnete Freizeit, in der sie genervt und unruhig waren, weil sie nicht wussten, was sie mit sich anfangen sollten.
    Das war ihr Problem.
    Mit den langen Nächten auf der Straße, in lärmenden Kneipen und verrauchten Clubs, wo einem die Beats fast die Ohren wegbliesen, konnte ihr Alltag – Freundinnen, Familie, ein nicht abbezahltes Reihenhaus in der öden, friedlichen Peripherie der Stadt – nicht konkurrieren. Das wahre Leben fand in jener schillernden Gegenwelt statt, in der sie sich zu Hause fühlten, obwohl sie in Wirklichkeit doch niemals dazugehören durften. Ihre Ehefrauen schlugen ihnen immer wieder diese eine Wahrheit um die Ohren, aber eher ließen ihre Männer Ehe und Beziehungen den Bach hinuntergehen, als in Frage zu stellen, was sie taten und wie verdammt gut sie sich dabei fühlten.
    Ohnehin würde sich alles von selbst regeln, es war nur eine Frage der Zeit. Ein schlagendes Argument, dem tatsächlich nichts hinzuzufügen war. Man konnte diese Arbeit definitiv nicht ewig machen. Irgendwann, in ein paar Jahren schon, würden sie zu alt für die Clubs der Jugendszene sein. Sie würden auffallen. Man würde ihnen ansehen, dass sie nicht dazugehörten. Danach...
    Konkret dachten sie sehr selten an das Danach: den Schreibtischjob, der ihnen bevorstand, irgendwann, wenn sie nicht rechtzeitig den Absprung schafften – vielleicht in ein anderes Abenteuer, diesmal mit sehr ungewissem Ausgang. Aber jetzt war jetzt.
    Jetzt war jetzt: vier Uhr morgens, kurz vor der Dämmerung. Das

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