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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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stand wieder auf und begann erneut ihren ruhelosen Gang auf und ab vor Berghammers Schreibtisch. Ihre Idee elektrisierte sie.
    »Ich will nicht, dass Plessen Bescheid weiß«, fuhr sie fort. Das Fenster kippte plötzlich wieder auf. Mona setzte sich auf die Kante von Berghammers Schreibtisch. Sie wusste genau, dass er das nicht mochte, aber im Moment war ihr das egal. Erneut schlug das Fenster zu, dann klappte es wieder auf und ließ eine kühle Brise in den Raum.
    »Warum soll er das nicht wissen?«, fragte Berghammer, während er mit ruhigen Bewegungen aufstand und das Fenster schloss.
    »Gegenfrage«, sagte Mona. »Bist du dir so sicher, dass Kern Recht hat?«
    »Was meinst du damit?«
    »Warum gehen wir automatisch davon aus, dass Plessen nur Opfer ist? Vielleicht hat er ja auch was mit den Taten zu tun. Oder seine Frau. Wir wissen das doch gar nicht.«
    »Kern sagt...«
    »Kern sagt, es ist ein Serientäter. Kann ja möglich sein. Aber bisher haben wir zwei Tote, und das Einzige was auf einen Serientäter hinweist, sind die eingeritzten Buchstaben. Das kann eine typische Handschrift sein, muss aber nicht. Vielleicht will uns der Täter etwas sagen, das wir nicht verstehen.«
    »Okay, aber...«
    »Deshalb sollten wir in beide Richtungen ermitteln. Oder vielmehr in alle. Es gibt einerseits diese Patienten, denen Plessen nicht geholfen hat. Bislang haben wir einen gefunden, der in der Psychiatrie sitzt. Vielleicht waren beide Taten eben doch bloß Racheakte. Vielleicht weiß Plessen zum Beispiel ganz genau, was die beiden Worte bedeuten und wie der Satz weitergeht, aber er sagt es uns nicht, weil er Angst um seine Existenz hat. Andererseits hat vielleicht Kern Recht, und der Täter macht noch mal einen Zyklus mit – einfach so, aus Spaß. In jedem Fall wäre es gut, wenn jemand von uns da wäre. Sich mal in diesem Haus umsehen und Plessen auf die Finger gucken würde.«
    »Okay.«
    »Okay? Ich meine, du bist einverstanden? Wir können...«
    »Warum machst du so ein Gesicht? Ist das so besonders, dass ich mal eine Idee von dir gut finde?«
    »Nein. Ich freu mich drüber.«
    Regen schlug an die Fensterscheiben. Wahrscheinlich war es draußen jetzt schon zehn Grad kälter als noch vor einer Viertelstunde. Mona sprang auf und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Tür. »Ich weiß auch schon, wen wir schicken«, sagte sie, und ihre Stimme hörte sich an, als hätte sie soeben ein Match gewonnen.

29
    1985
    Als der Junge dreizehn Jahre alt wurde, fanden die ersten körperlichen Veränderungen statt, die die Pubertät einleiten. Seine Genitalien vergrößerten sich, sein Stimme wurde brüchig, sein Gang plumper, er schoss in die Höhe und hatte ständig Hunger. Eine Zeit lang ruhten seine merkwürdigen Aktivitäten im Tierreich, und er fühlte sich fast erleichtert: Sein Körper machte ihm stärker als je zu schaffen, und das lenkte ihn vorübergehend ab. Im Rückblick betrachtet gab es damals eine zweite Chance für ihn, sich der hellen, oberflächlichen, wirklichen Welt zuzuwenden, in der es Spaß, Freundschaft und Liebe gab.
    Wenn auch nicht in seinem direkten Umfeld.
    Die Mutter des Jungen hatte sich nach mehreren Männergeschichten, die enttäuschend, manchmal auch traumatisch endeten, einen neuen zuverlässigeren Freund gesucht. Er war stumm, aber voller Verständnis für ihre Bedürfnisse nach Wärme, Entspannung und Genuss. Er war immer verfügbar und entzog sich nie mit fadenscheinigen Begründungen. Er schrie nicht herum. Mehrere Flaschen von ihm lagerten im Eisfach ihres Kühlschranks und wurden Abend für Abend geköpft. Manchmal leistete ihr dabei ein anderer Trinker Gesellschaft. Diese Beziehungen erwiesen sich als angenehm unkompliziert, haltbar und berechenbar, weil körperlich und seelisch Ausgebrannte in der Regel keine emotionalen Forderungen mehr stellen.
    Eine trügerische Ruhe stellte sich ein. In der Klinik funktionierte sie weiterhin als gefürchtet penible Oberärztin und niemand ahnte etwas von ihrem zweiten Leben im permanenten Rauschzustand. Ihr Gesicht schien glatt und unangreifbar, denn tagsüber blieb sie selbstverständlich nüchtern.
    Die Schwester des Jungen lebte nun ganz beim Vater des gemeinsamen Kleinkinds und kam kaum noch in ihr altes Zuhause. Dem Jungen war das lange Zeit egal gewesen, weil sie nie ein besonderes Verhältnis zueinander hatten. Doch in letzter Zeit registrierte er ein neues Gefühl – ausgerechnet er, der sich nie für andere Menschen interessiert hatte:

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