Damals warst du still
Einsamkeit. Er ertappte sich bei dem Wunsch, auch außerhalb des starren Regelwerks der Schule und der Jungen Pioniere wenigstens ab und zu Leute um sich zu haben, mit denen man sich unterhalten und austauschen konnte: Er war auf der Suche nach einem Menschen, der ihn verstand und eventuell sogar teilnahm an seinem Hobby. Seine gesamte Kindheit über war der Junge davon ausgegangen, dass es Menschen wie ihn kein zweites Mal gab. Einerseits schmeichelte ihm die Überzeugung, eine Art Genie zu sein mit einem einzigartigen Interessengebiet. Andererseits hätte er gerne bestimmte Freuden mit jemand anderem geteilt und sich auf diese Weise weniger abseitig gefühlt. Manchmal träumte er von einem Mädchen, das er in seine Kunst einweihen würde. Eine Schülerin, dessen Lehrer er sein würde, eine Gefährtin in seinem Geiste: Diese Vorstellung erregte ihn manchmal so sehr, dass er glaubte zu platzen.
Langsam begann er, seine Fühler nach dem anderen Geschlecht auszustrecken. Sein sexueller Appetit wuchs, aber seine Fähigkeiten, Kontakte zu knüpfen und sich beliebt zu machen, hielten damit nicht Schritt. Er hatte nie gelernt, auf Menschen zuzugehen; seine ersten Versuche waren wenig erfolgreich. Auf andere wirkte er zerfahren und wenig liebenswürdig. Sein strohblondes Haar war struppig, sein Gesichtsausdruck meistens ernst mit herabgezogenen Mundwinkeln. Das alles machte keinen besonders anziehenden Eindruck.
Der Junge war sich dessen allerdings nicht bewusst. Er hatte nie Freunde gehabt, weil er sich für Gleichaltrige nicht interessierte, schon gar nicht für Mädchen. Letzteres hatte sich nun geändert, aber dem Rest der Welt war das egal. Kein Mädchen reagierte auf seine Annäherungsversuche, keine wollte sich länger als nötig mit ihm unterhalten. Der Junge verstand das nicht. Er fragte sich, warum sie ihn nicht wollten. Was machte er falsch? Er hätte gern jemanden um Rat gefragt, seine Mutter oder einen Lehrer, aber er hätte nicht gewusst, wie. Er kannte keine Worte für sein Problem, und es gab auch niemanden, der ihm seine innere Not angesehen hätte. In dieser Gesellschaft sprach man nicht über so etwas. Der Alltag war hier zu Lande ein Organisationsproblem, und man hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit Neurosen zu beschäftigen. Selbst enge Freundschaften waren in vieler Hinsicht Zweckgemeinschaften. Gibst du mir Schrauben, besorge ich dir Muttern. Kaufst du Schnaps, kümmere ich mich um eine anständige Mahlzeit.
Der Junge benahm sich weiterhin grenzenlos ungeschickt, gefangen in seinem eigenen emotionalen Universum, das Gefühle anderer nicht registrierte. Er fasste Mädchen an, einfach so, und wunderte sich, dass sie ihn zurückstießen, manche voller Zorn, andere mit einem Ausdruck von Angst in den Augen, der ihn so erregte, dass er nicht aufhören konnte, es immer wieder zu versuchen. Einige Mitschüler kriegten das spitz und stellten ihn empört zur Rede. Einmal wurde er sogar verprügelt, aber der Junge wehrte sich nicht. Es war, als würde er die Schläge nicht spüren. An diesem Tag ging er nach Hause, den Körper voller Kratzer und blauer Flecke, und die Verletzungen empfand er als viel weniger schmerzhaft als die umfassende Ratlosigkeit. Früher hatte man ihn gemieden und nicht weiter beachtet. Jetzt wurde er zum Sündenbock der Klasse, das Opfer hämischer Scherze und dadurch unfreiwillig zum verhassten Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Die Gründe dafür durchschaute er nicht. Doch sein Überlebenswillen war geweckt: Er verstand, dass es nun in erster Linie darum ging, erfolgreiches Verhalten von den anderen abzuschauen. Seine beträchtlichen schulischen Erfolge – lernen fiel ihm leicht – hatten ihn dieser Notwendigkeit bislang enthoben: Man ließ ihn in Ruhe, weil er keinen Anlass gab, sich über ihn aufzuregen. Doch nun hatte sich die Situation geändert. Er musste erreichen, gemocht zu werden, um seine Bedürfnisse leben zu können.
Wie ein Forscher beobachtete er das Verhalten älterer Jungs, mit denen sich die Mädchen seiner Altersklasse bevorzugt zusammentaten. Er stellte fest, dass die Jungen, die Mädchen besonders gleichgültig und abschätzig behandelten, seltsamerweise am meisten umschwärmt waren. Er versuchte, das zu imitieren, aber der Erfolg war gleich null. Nachts fantasierte er von der weichen, glatten, unversehrten Haut der Mädchen. Er stellte sich die Spitze eines Messers vor, das vorsichtig eindrang, und die purpurroten Blutstropfen, die aus der verletzten Haut
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