Damals warst du still
Ergebnis: keine auffälligen Vorkommnisse. Die Journalisten und Fernsehteams waren teilweise abgezogen, nachdem bekannt geworden war, dass Plessen seine Geschichte samt aller Begleitumstände exklusiv einem Magazin verkauft hatte, um endlich seine Ruhe zu haben. Berghammer hatte noch versucht, ihm das auszureden, aber Plessens Argumente waren durchaus überzeugend gewesen: besser immer dieselbe Nervensäge eine absehbare Zeit lang als hundert Nervensägen wochenlang vor seiner Tür.
Bei der ersten Konferenz am Montagmorgen, dem 21. Juli, verteilten Mona und Berghammer die mehrseitige Expertise der OFA an die nun dreizehnköpfige Sonderkommission Samuel, bestehend aus Berghammer, Mona, den Mitgliedern der MK 1, jeweils einem Mitglied der übrigen vier Mordkommissionen, Kern und seinem Kollegen Sigurd Wimmer von der OFA, und zwei LKA-Beamten. Nach einem weiteren heftigen Gewitter Sonntagnacht war es wieder sonnig und heiß, wenn auch weniger feucht und drückend. Der Mord an Samuel Plessen lag nun sieben Tage zurück, die Entdeckung der Leiche von Sonja Martinez hatte vor sechs Tagen stattgefunden. Die Expertise der OFA entsprach im Wesentlichen dem, was Kern auf ihrer inoffiziellen Zusammenkunft in der Pizzeria entworfen hatte.
1. Der Täter war vermutlich männlich, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt.
2. Beide Morde waren sorgfältig geplant worden, der Täter konnte sich also Zeit nehmen, post mortem alles nach seinen Vorstellungen zu arrangieren. Er hatte die Umstände so gut organisiert, dass er sich nicht beeilen musste, nicht in Panik war.
3. Deshalb musste der Täter mindestens durchschnittlich, wahrscheinlich aber überdurchschnittlich intelligent sein. Die Tatsache, dass er sich offenbar problemlos bei Sonja Martinez Einlass verschaffen konnte (aber kein einziges Ermittlungsergebnis auch nur die entfernte Möglichkeit aufzeigte, dass das Opfer den Täter kannte) wies darauf hin, dass seine sozialen Fähigkeiten normal, vielleicht sogar überdurchschnittlich waren.
4. Der Täter wies vermutlich bereits in seiner Kindheit einige abnorme Verhaltensweisen auf, wie zum Beispiel das Töten von Tieren und das anschließende Sezieren. Es erregte ihn möglicherweise, Haut zu verletzen, in das Innere von Lebewesen zu schauen. Die Botschaft der eingeritzten Buchstaben bewertete Kern als eventuell wichtig, aber gegenüber der tatsächlichen Bedürfnislage des Täters als zweitrangig.
5. Der Täter war vermutlich ein unauffälliger Einzelgänger und hatte – aufgrund bestimmter Vorlieben für sexuelle Praktiken sadomasochistischer Art – möglicherweise Schwierigkeiten, eine Freundin zu finden. Eventuell war er in entsprechenden legalen Kreisen aktiv, vielleicht lebte er aber auch komplett asexuell. Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich war, dass er verheiratet war, vielleicht sogar Kinder hatte und bestimmte Obsessionen im Verborgenen lebte. Vielleicht besaß er einen zweiten Wohnsitz, etwa ein abgelegenes Ferienhaus, von dem niemand etwas wusste.
6. Der Täter war im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Kein Schizophrener in einer akuten Phase hätte die Taten derart planvoll durchführen können.
7. Wenn die beiden Morde Botschaften enthielten, dann (auch) diese: Der Täter wollte auf sich, vielleicht auf seine innere Not, aufmerksam machen.
8. Der Täter befand sich in der Anfangsphase, die beiden Taten waren vielleicht nicht die ersten, aber, wenn er nicht vorher gefasst würde, sicher nicht die letzten ihrer Art. Die nächsten Male würde der Täter vermutlich keine Drogen mehr brauchen, um seine Opfer auf unblutige Weise zu eliminieren. Er würde vielmehr nun den Mut haben, seinen Opfern tödliche Stichverletzungen zuzufügen und seine Opfer anschließend eventuell ausweiden. Das gehörte zum Programm eines Serientäters: dass die Reize von Mal zu Mal stärker werden mussten und die Hemmschwelle immer niedriger wurde.
9. Ein sexueller Hintergrund war wahrscheinlich und würde sich bei den nächsten Taten möglicherweise eindeutiger manifestieren.
Mona, Berghammer und Kern, die den Inhalt bereits kannten, saßen am Kopfende des Konferenztisches und beobachteten ihre Kollegen beim Lesen. Monas Gedanken wanderten ab. Lukas’ Deutschlehrerin und Klassenleiterin hatte sie früh morgens noch vor Schulbeginn angerufen; offenbar hatte Lukas wieder angefangen zu schwänzen. Mona war schon mehrmals in der Sprechstunde dieser Lehrerin gewesen. Sie hieß Frau Hellwart, zeigte lange gelbe Zähne, wenn sie
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