Damals warst du still
von hinten die Hand auf die Schulter.
Der Schock des Jungen hätte nicht größer sein können. Hier in seinem Revier durfte ihm niemand begegnen, hier war er eine ganz andere Gattung Mensch als in der Öffentlichkeit, und das würde jeder sehen, der ihn unbemerkt beobachtete. Langsam, schreckgelähmt versuchte er, sich umzudrehen, und erhielt sofort einen heftigen Schlag ins Genick, der ihn auf die Knie zwang. »Was...«, wollte er sagen, als er ein Seil um den Hals spürte, das dick und fest war wie ein Bootstau. Er griff sich mit einer reflexhaften Bewegung an den Hals und spürte die harten, unnachgiebigen Hanf-Fasern. Das Seil war fest verzurrt, er bekam die Finger nicht dazwischen. Er öffnete den Mund, um zu schreien, doch die Schlinge zog sich weiter zu, und aus seinem Schrei wurde ein müdes Krächzen.
»Halt’s Maul, Arschloch«, zischte eine heisere männliche Stimme, die der Junge nicht erkannte. Er kämpfte weiter, bis er keine Luft mehr bekam. Er hatte Todesangst und gleichzeitig war etwas in ihm, das die Situation – die Schmerzen, die wahnsinnige Furcht – bis zum Exzess genoss. Schließlich ließ er sich fallen, hörte auf, sich zu wehren. Für Sekunden verlor er das Bewusstsein, sein Schädel fühlte sich riesig an und wie mit Gas gefüllt. Er dachte, dass er gleich davonschweben würde und dass ihm das nicht unrecht wäre.
»Steh auf! Bück dich nach vorn«, befahl die Stimme immer noch flüsternd. Der Junge tat benommen, was ihm geheißen wurde. Unsicher schwankend starrte er nach unten, auf den feuchten, nach Pilzen und modrigen Pflanzen duftenden Waldboden. Der Mann packte ihn grob an den Hüften und drehte ihn so, dass er direkt vor dem Baum stand. »Leg deine Hände auf die Rinde!«
Der Junge tat es. Ein Schwall Regentropfen fielen auf seinen Nacken, als seine Hände den Stamm berührten. Der Mann streifte ihm die Hose herunter. Dann hörte der Junge, wie sich hinter ihm der Mann ebenfalls ungeduldig seine Hose samt Unterhose herunterriss. Eine Sekunde lang ließ er den Jungen los, dann packte er ihn erneut. Ein schrecklicher, schier endloser Schmerz durchzuckte den Jungen, als der Mann etwas heißes, dickes in seinen After stieß. Er heulte auf.
»Sei still, sonst bist du tot!«
Aber der Junge konnte nicht aufhören zu stöhnen. Ihm war, als würde er gepfählt werden, mit immer neuen, immer tieferen Stößen bis tief in seinen Körper hinein. Er glaubte zu sterben. Übelkeit überflutete ihn, und er spürte eine heiße Flüssigkeit die Beine herabrinnen, vielleicht Blut, vielleicht Urin. Sein Kopf stieß rhythmisch an den Baum, seine Hände krampften sich am Stamm fest, während sich der Unbekannte an ihm verging. Nach endlosen Minuten oder Stunden wurde er losgelassen. Er fiel in sich zusammen wie eine der Gliederpuppen des Marionettentheaters, das er vor Urzeiten mit seinen Eltern und seiner Schwester besucht hatte.
»Dreh dich nicht um! Wehe, du kleines Schwein drehst dich um!«
Die flüsternde Stimme schien sich zu entfernen, doch der Junge rührte sich nicht. Den Kopf in den Waldboden gedrückt, den Holzgeruch der Baumrinde in der Nase hielt er die Augen geschlossen, als könnte er auf diese Weise alles ungeschehen machen, was ihm widerfahren war. Schließlich zwang ihn der Schmerz, sich zu bewegen. Er drehte sich mühsam auf den Rücken; die ganze Region um seinen After brannte, aber sterben, das wusste er nun, würde er daran nicht. Er sah sich vorsichtig um, aber sein Peiniger schien verschwunden zu sein.
Er zog sich die Schuhe und die Hose aus, die wie ein Strick um seine Knöchel gewunden war. Seine Beine waren blutverschmiert und stanken nach Urin und fremder Samenflüssigkeit. Der Junge erhob sich langsam wie ein Automat und zog auch seinen feuchten, schmutzigen Pullover aus. Langsam ging er durch den Regen zum Wasser. Der Boden war matschig, die Luft war kalt, aber das spürte er kaum. Er wusste nur eins: Niemand durfte davon erfahren. Er gehörte nicht zu den Leuten, die sich irgendeine Form von Aufsehen leisten konnten. Er wiederholte sein Glaubensbekenntnis wie ein Mantra, das ihn stark machen sollte.
Ich darf nicht auffallen.
Ich darf nicht auffallen.
Ich darf nicht auffallen.
Das Wasser trug ihn; er schwamm weit hinaus. Tauchte unter, um alles abzuwaschen: den Ekel, die Furcht, die Verwirrung. Regentropfen trommelten auf seinen nassen Kopf, Böen fegten über den grauen See und kräuselten die Wasseroberfläche. Es dämmerte bereits. Er sah auf seine Uhr, es
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