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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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war halb sieben. Seine Mutter würde jetzt bereits in ihrem Zimmer verschwunden sein. Sie würde nichts merken. Niemand würde etwas merken, wenn er es geschickt anstellte. Er watete ans Ufer zurück, zog seine nassen Schuhe, seine verschmierten Hosen, seinen vom Regen schweren Pullover an und stolperte nach Hause.
    Seine Mutter merkte nichts. Hätte sie etwas gemerkt, hätte er so lange geschwiegen, bis sie es aufgegeben hätte, weiterzufragen. Aber wahrscheinlich hätte sie ohnehin so getan, als wäre alles ganz normal. Wie immer.
    Es gab niemanden, mit dem er über den »Zwischenfall« sprechen konnte.

10
    Dienstag, 22. 7., 9.00 Uhr.
    Zu Beginn der ersten Stunde am Dienstag hatten die Teilnehmer ihre Schuhe ausgezogen und Plessen hatte, trotz der Hitze, Strümpfe verteilt. Anschließend hatten sich alle im Schneidersitz auf den Boden gesetzt, mit Kissen unter dem Hintern. Dann hatten sie sich vorgestellt. Sabine, Helmut, Raschida, Franziska, Volker, Hilmar, David. Auch Plessen nannte nur seinen Vornamen: Fabian. Aha. David fühlte sich unwohl in seinen Designerjeans und dem T-Shirt mit dem deutlich sichtbaren Armani-Schriftzug. Alle anderen sieben Teilnehmer trugen bequeme Jogging-Klamotten, die abscheulich billig und unkleidsam aussahen. Psychos hatte David Leute mit Therapie-Erfahrung früher immer abschätzig genannt, ohne sich viel darunter vorstellen zu können. Diese Leute sahen nicht aus wie Psychos, sondern sehr normal. Sie erinnerten ihn aus irgendeinem Grund an bestimmte Lehrer: die, die sie früher in der Schule immer verarscht hatten.
    Während Plessen – Fabian – eine so genannte Initiationsübung machte, die im Wesentlichen so aussah, dass jeder mit geschlossenen Augen dasitzen und sich seinen »inneren Garten« vorstellen sollte, betrachtete David zwischen seinen halboffenen Lidern die Teilnehmer, einen nach dem anderen. Niemand wirkte in irgendeiner Weise auffällig. Die meisten waren weit über dreißig, also ein gutes Stück älter, als der Mörder laut Fallanalyse sein sollte. Sein Blick blieb an Fabian hängen. Ein zierlicher weißhaariger Mann mit vielen Falten im leicht gebräunten Gesicht. Sein schmaler Mund schien immer leicht zu lächeln. Seine Stimme war leise und monoton (»Nun betretet ihr euren inneren Garten. Überlegt euch, ob die Sonne scheint oder es vielleicht regnet. Gibt es Bäume, Blumen oder ein Haus? Wie sieht das Haus aus?«) Es gab auch an ihm nichts weiter Bemerkenswertes, und David überlegte sich zum ersten Mal, ob er hier nicht seine Zeit verschwendete.
    Vier Tage würde er mit diesen Leuten in diesem mit blauen Vorhängen verdunkelten Raum verbringen müssen. Draußen war heißes Badewetter, in den Clubs der Stadt tobte nachts das Leben, und er saß hier – aufgrund eines bloßen Verdachts einer Kriminalhauptkommissarin, die als pedantisch und humorlos galt. Sein Blick kehrte zurück zu Fabian, der, wie die anderen, immer noch mit geschlossenen Augen dasaß, die nicht einmal blinzelten.
    »Beschreib uns deinen Garten, David«, sagte Fabian plötzlich, und seine Stimme klang so, als hätte er nicht nur Davids Blick gespürt, sondern auch die Tatsache, dass er sich als Einziger der Gruppe an der Übung überhaupt nicht beteiligt hatte. David schrak zusammen wie ein ungezogenes Kind, das beim Klauen erwischt worden war. Sofort machte er die Augen zu. »Ein, äh, Haus«, sagte er, fieberhaft überlegend, was da noch sein könnte. »Ein Haus mit blauen Rollläden und einer braunen Tür.«
    »Das steht in deinem Garten? Ein Haus?«, fragte Fabian freundlich.
    »Ja. Und – Blumen natürlich.«
    »Ah. Was denn für Blumen?«
    »Rosen«, sagte David, weil ihm nichts anderes einfiel. »Rote Rosen. Ein ganzer Busch. Direkt an der Wand.« Er stellte sich die Rosen vor: rot, sehr, sehr rot. Ein dicker Busch roter Rosen, voll erblüht. Einige welke, verkrumpelte Blütenblätter lagen auf dem Boden. Langsam begann sein Garten tatsächlich Gestalt anzunehmen, langsam begann ihm das Spiel zu gefallen. »Die Wände«, fabulierte er weiter, »sind ganz weiß. Die Sonne scheint sehr heiß, und...«
    »Schön«, sagte Fabian. »Kommen wir noch einmal zu dem Haus zurück. Schau es dir genau an. Du musst uns nicht mehr erzählen, was du siehst. Aber schau doch noch einmal genau hin.«
    »Ja«, sagte David folgsam. Ihm fiel auf, dass seine Stimme sich tiefer anhörte als normalerweise. Er schien immer weiter hinabzusteigen, wohin, wusste er nicht.
    »Sehr weiße Wände«, sagte er.

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