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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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ihm keinen besonderen Spaß, aber der Zweck war schnell erreicht. Es war unfassbar leicht, Menschen zu täuschen. Sie sahen nur, was sie sehen wollten, nämlich die pure Oberfläche. Man konnte ihnen alles erzählen, solange es in ihr Bild passte. Sie dachten nie über ihre jämmerlich engen Vorstellungen hinaus. Sie hatten keinerlei Fantasie und waren unfähig, Visionen über diejenigen hinaus zu entwickeln, die ihnen von der Partei vorgegeben wurden. Sie machten sich darüber lustig, dass die Zustände im Land so sichtbar von dem abwichen, was die Parolen verhießen, aber sie unternahmen nichts. Der Junge verachtete sie.
    Zu diesem Zeitpunkt begann er, Menschen vor sich selbst als Schemen zu bezeichnen: Sie waren existent, spielten aber in seiner Realität keine Rolle, in einer umfassenderen Wirklichkeit allerdings sehr wohl. Er musste sich mit ihnen arrangieren und griff zu einigen Tricks. Da er beispielsweise erkannt hatte, dass die Schemen Widerspruch nicht zu schätzen wussten, gewöhnte er sich bei Gesprächen ein ausdauerndes, scheinbar verständiges Nicken an und vergaß dabei nicht, intensiven Blickkontakt zu halten. Er sprach alle Schemen mit ihren Namen an, weil er merkte, dass sie das mit individueller Wertschätzung verwechselten, und er gewöhnte sich besänftigende Floskeln an, die nach dem Baukastenprinzip beinahe auf jede Situation passten, in denen Misstrauen oder Unstimmigkeiten drohten, die er nicht gebrauchen konnte ( Wir wollen doch alle dasselbe lautete eine, eine andere: Jede Medaille hat ihre zwei Seiten ). Er lobte viel und kritisierte nichts. Diese Strategie einerseits und sein phänomenales Gedächtnis andererseits halfen ihm, das elementare Gefühl der Fremdheit im Beisein anderer zu vertuschen. An Mädchen, die ihm gefielen, kam er auf diese Weise zwar nicht heran, aber immerhin machte ihn seine Taktik des geringstmöglichen Widerstandes bei Lehrern und anderen Autoritäten beliebt, und in der Folge ließen ihn selbst übel wollende Klassenkameraden endlich in Ruhe.
    Nur seine Mutter glaubte nicht an den sich plötzlich brav und fürsorglich gebärdenden Sohn. Zu abrupt war der Wechsel von einem unzugänglichen Einzelgänger mit hartem, verschlossenem Gesicht zu einem konzilianten Ja-Sager, biegsam wie Gummi, aber letztlich genauso unberechenbar. Aber da sie selbst zu viele Geheimnisse hatte, um ihm noch gefährlich werden zu können, war das dem Jungen egal. Und ihr, wenn sie ehrlich war, irgendwann auch. Sie achtete darauf, dass der Junge seinen schulischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkam, und ignorierte ihn ansonsten wie einen lästigen Untermieter, dessen Kündigung man sich gleichwohl nicht leisten kann. Dazu gehörte auch, dass sie aufhörte, abends zu kochen, und stattdessen die paar Lebensmittel, die es gerade zu kaufen gab, auf den Tisch stellte und es ihrem Sohn überließ, sich daraus eine Mahlzeit zuzubereiten. Sie selbst hatte seit ihrer innigen Beziehung zu hochprozentigem Schnaps, den es glücklicherweise immer und überall gab, fast überhaupt keinen Hunger mehr. Oft verschwand sie schon gegen sechs Uhr mit ihrem Freund, der Flasche, im Elternschlafzimmer, das ihr nun ganz allein gehörte.
    Auch das ließ den Jungen kalt. Aus Essen machte er sich nichts; manchmal nahm er, neben den Kantinenmahlzeiten in der Schule, wochenlang nichts anderes zu sich als trockenes Brot. Das war kein Problem für ihn. Nichts betraf ihn wirklich. Wenn ihn jemand gefragt hätte, wonach er sich sehnte, hätte er es nicht sagen können. Er wollte nichts und vermisste nichts. Es gab niemanden, den er liebte, und niemanden, den er hasste. Emotional war er wie ausgehöhlt: Leerstellen in Kopf und Herz, die okkupiert wurden von Visionen geheimnisvollen Ursprungs, die von Monat zu Monat konkreter und gewalttätiger wurden. Er unternahm nichts mehr gegen die faszinierenden bedrohlichen Bilder. Sie hatten sich immer als stärker erwiesen als seine Bemühungen, sich ihrem Einfluss zu entziehen.
    Dann passierte das, was er später vor sich selbst als »den Zwischenfall« abzutun versuchte. An einem verregneten Nachmittag pirschte der Junge mit dem Gewehr des alten Mannes über der Schulter durch den dichten Erlengürtel, der den See umgab und ihn von weitem fast unsichtbar machte. Nach zwei erfolglosen Stunden, in denen nicht einmal eine Maus seinen Weg gekreuzt hatte, lehnte er sich an einen Baumstamm und ließ das Gewehr auf einen Wurzelstrang gleiten. Im selben Moment legte ihm jemand

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