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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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ihn nicht sehen konnten: schräg hinter der »Mutter«, die auf den »Vater« blickte, der irgendwohin schaute, um seine Familie nur ja nicht wahrzunehmen.
    »Wie fühlst du dich?«, fragte Fabian David.
    »Ich will hier weg«, sagte David, und hatte erneut das Gefühl, eine fremde Person bemächtige sich seiner Stimme, seiner Gestik, seiner Mimik. Es war unheimlich und gleichzeitig faszinierend: Er spürte diesen Wunsch so intensiv, als sei es sein eigener, und gleichzeitig war ihm bewusst, dass diese Gefühle nichts mit ihm, David, zu tun hatten. Sie waren die eines anderen, und sie ergaben sich aus dieser besonderen Konstellation. Sie waren vielleicht nur eine Folge von falschen Platzierungen. Konnte es so einfach sein?
    »Du willst weg«, sagte Fabian mit neutraler Stimme. »Kannst du mir sagen, wohin?«
    »Raus hier«, sagte David. »Ganz weg. Egal wohin.« Er war plötzlich ein schwerer, maskuliner Mann mit breiter Brust und dickem braunem Haar; er spürte Koteletten an seinen Wangen. Seine Familie bestand aus einer ängstlichen, dummen Frau und einem feigen, verklemmten Kind, das in der Schule gehänselt wurde, weil es zu dick und zu langsam war, um mitzuspielen. Der Mann hatte überhaupt keine Familie gewollt, und diese hier schon gar nicht.
    »Warum gehst du nicht einfach?«, fragte Fabian.
    David vertiefte sich in die Frage: Was hielt ihn zurück? Tatsache war, er war immer noch da. Wie konnte das sein? »Es gibt noch jemanden«, sagte er schließlich.
    »Jemand, der dich zurückhält?«
    »Ja.«
    »Wer ist das? Deine Frau?«
    »Nein.«
    »Meine Großmutter«, sagte der echte Helmut plötzlich aus dem Hintergrund. Fabian drehte sich zu Helmut um. »Deine Großmutter sehe ich hier nicht. Wo ist sie?«
    Helmut nahm Raschida an der Hand und platzierte sie direkt vor David. David fuhr zurück: Er war gefangen wie in einem Sandwich. Er konnte nicht heraus. Jetzt war alles klar. Um wegzukommen, hätte er diese Frau töten müssen. Es juckte ihn in den Fingern, genau das zu tun. Und dieser Drang spiegelte sich in dem Gesicht der Frau, die vor ihm stand: Raschidas Ausdruck schwankte zwischen Angst und einer elementaren, kaum beherrschbaren Wut. David wurde schwarz vor den Augen, er ging langsam in die Knie.
    »Wir unterbrechen kurz«, hörte er Fabian noch sagen, dann verlor er das Bewusstsein.

20
    Mittwoch, 23. 7., 11.13 Uhr
    »Sie lebt.«
    »Plessens Schwester? Die angeblich tot ist?«
    »Ja. Plessen hat gelogen, frag mich nicht, warum. Sie lebt und bezieht Rente. Sie heißt nicht mehr Plessen, sondern Helga Kayser, verheiratet mit Ludwig Kayser. Der ist allerdings vor zwei Jahren gestorben. Kayser mit A-Ypsilon. Sie ist sechsundsiebzig und ist in Marburg gemeldet.«
    »Mein Gott, Karl …
    »Ich sage dir, das war wirklich ein Problem. Plessen stammt aus einem Nest im Osten namens Lestin. Die Geburtsurkunden sind im Krieg verloren gegangen. Aber glücklicherweise hat eine Frau, die Plessens Mutter sein muss, 1961 in Berlin wieder geheiratet. Sybille Plessen; die Kinder heißen Fabian und Helga, Alter stimmt auch.«
    »Das heißt, sie war Witwe.«
    »So steht’s im Familienbuch von 61, damals hat sich ja noch kein Mensch scheiden lassen. Ihr erster Mann wird im Krieg gefallen sein.«
    »Mhm.«
    »Also, die Witwe Plessen heiratet ein zweites Mal in Berlin, einen Herrn Dagusat, und zwar im Jahr 1961. Das ist unser Glück, denn Familienbücher werden erst seit 1958 angelegt. In diesem Familienbuch stehen Sybille Dagusat, ihr neuer Mann, ihr Sohn Fabian Plessen und seine Schwester Helga drin. Helga ist, wie er gesagt hat, fünf Jahre älter als er.«
    »Und?«
    »Sie hat 1961 geheiratet. Im selben Jahr wie ihre Mutter. Witzig, was?«
    »Kinder?«
    »Keine.«
    »Hast du ihre Adresse?«
    »Die, unter der sie gemeldet ist.«
    »Telefonnummer?«
    »Ja.«
    »Okay, Karl, wir reden nicht mehr über deine Nachlässigkeit. Gibt es andere Geschwister außer ihr? Nichten, Neffen, sonst irgendwelche Verwandten?«
    »Nichts bekannt.«
    »Was ist mit der Vaterschaft Plessens?«
    »Du hast auch da Recht gehabt. Samuel wurde von Plessen offiziell adoptiert, gleich nachdem die beiden geheiratet haben. Da war Samuel drei.«
    »Das heißt, sie haben...«
    »... vor dreizehn Jahren geheiratet. Er hat mir aber gesagt...«
    »... vor siebzehn Jahren. Ich weiß, ich habe gestern noch mal dein Vernehmungsprotokoll gelesen.«
    »Wieso hat er gelogen? Ich versteh das nicht.«
    »Keine Ahnung, Karl. Gib mir die Nummer von dieser Helga Kayser,

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