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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
Vom Netzwerk:
und das lag nicht nur daran, dass sie viel jünger als ihr Mann war. Sie wirkte abwesend und schien sich nur mit Mühe dazu zu zwingen, sich auf den Beinen zu halten.
    »Jede Familie«, sagte Fabian, »ist ein Netzwerk, in dem alle ihren Platz haben: die Eltern, die Großeltern, die Cousinen, Tanten, Onkel, Kinder. Tote und Lebendige. Jedes Netzwerk ist anders strukturiert, aber in sich vollkommen logisch aufgebaut. Aus diesem Netzwerk heraus ergeben sich Verhaltensweisen, Erwartungen und Forderungen an jedes Familienmitglied. Manche Mitglieder scheinen nicht mehr dazuzugehören, entweder weil sie als schwarze Schafe gebrandmarkt wurden oder weil sie schon gestorben sind. Aber diese Annahme ist falsch. Sie existieren weiterhin im Verband. Man kann sie nicht vergessen und nicht totschweigen. Sie spielen ihre Rolle, ob wir das wollen oder nicht.«
    »Und warum interessiert uns das?«, fragte David.
    Fabian lächelte und sah ihn wieder mit diesem direkten, warmen Blick an, der David jedes Mal durcheinander brachte – vielleicht weil ihn noch niemand so angesehen hatte, als hätte er umfassendes Verständnis für all die Verwirrungen in Davids Leben, die sich, und davon schien Fabian zutiefst überzeugt – zu einem klaren Ganzen fügen würden. Gelöste Geheimnisse, die niemanden mehr quälten – ob das erreichbar war?
    »Da jedes Mitglied seinen Platz in der Gemeinschaft hat, bekommt auch jedes Mitglied ein ganzes Bündel an Aufgaben mitgegeben. Diese Aufgaben werden selten als solche formuliert. Trotzdem erkennt jedes Mitglied intuitiv, was von ihm erwartet wird. Nun müssen wir unterscheiden lernen: Welche Aufträge dienen dem Ganzen, sind also Bestimmung – und welche sind nur ein Relikt eines falsch geknüpften Netzwerks.«
    »Man kann das Netzwerk neu knüpfen?«, fragte Franziska, die offenbar ebenfalls zum ersten Mal dabei war und bislang noch fast nichts gesagt hatte, selbst bei den gemeinsamen Mahlzeiten nicht. Aber jetzt klang ihre Stimme eifrig.
    »Ja«, sagte Fabian, und sah sie auf dieselbe Weise an wie vorher David, was David enttäuschte. »Es gibt bestimmte Regeln in jeder Familie, die sind sakrosankt, die können wir nicht verändern. Ihr seid hier, um herauszufinden, welche das sind. Und es gibt Regeln, die ihren Sinn innerhalb der Familie verloren haben, weil sie die Familie nicht stützen, sondern ihre Mitglieder behindern. Diese Regeln werden in Zukunft nicht mehr für euch gelten. Das verspreche ich euch. Noch Fragen?«
    »Ja«, sagte David. »Warum spielen wir hier andere Personen? Und warum...«
    »Warum das funktioniert? Das, lieber David, ist ein Geheimnis, das ich selbst nicht kenne. Sobald du in diesem Rahmen von einem der Teilnehmer gewählt wirst, um ein Stellvertreter zu sein, tritt ein magischer Prozess in Kraft, der uns befähigt, für kurze Zeit in ein fremdes Leben zu schlüpfen. Wir sind sehr dankbar dafür, denn dieser Prozess führt uns zu Erkenntnissen, die wir anders nicht gewinnen könnten. Noch Fragen?«
    »Ja«, sagte David. »Was ist, wenn dieser Stellvertreter sich irrt? Ich meine, es geht doch um Gefühle. Gefühle können doch auch mal falsch sein. Man kann sich doch zum Beispiel auch nur einbilden, dass...«
    »Das passiert selten, aber wenn, dann merke ich das«, sagte Fabian in einem Ton, der keinen Widerspruch zu dulden schien.
    »Immer?«
    »Du kannst dich darauf verlassen.«
    David verstummte skeptisch. Irrte er sich, oder klang Fabians sanfte Stimme plötzlich leicht gereizt? Niemand sagte etwas.
    »Dann fangen wir an«, sagte Fabian und sprang auf. Wieder fiel David die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen auf, und der seltsame Kontrast zu seinem faltigen Gesicht. Er ist jung und alt zur gleichen Zeit, dachte David.
    Fabian trat ein paar Schritte zurück, als wollte er die Gruppe als Ganzes im Auge behalten, und sagte: »Helmut, bitte ordne deine Familie heute ein zweites Mal an. Wie gestern bei Sabine und Volker gilt, dass du dich auf die Ursprungsfamilie beschränken musst, weil wir diesmal einfach zu wenige sind.«
    Helmut trat nach vorne. Er wirkte verlegen; sein pummeliges Gesicht war rot geworden, seine Bewegungen linkisch. Dann wiederholte sich das Prozedere des vorangegangenen Tages: David war diesmal Helmuts »Vater«. Er stand mit dem Rücken zu Helmuts »Mutter«, die von Sabine verkörpert wurde. Helmuts »Mutter« sah auf den abgewandten Rücken von Helmuts »Vater«. »Helmut« selbst, gespielt von Hilmar, stand an einer Stelle, an der seine Eltern

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