Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick
Ge- bzw. Missbrauch des Gastrechts. Kluge Gefangene sollen dem sicheren Tod dadurch entkommen sein, dass sie kurz vor der Hinrichtung um einen Schluck Wasser baten. Als der Herrscher ihnen die Bitte gewährte, da riefen sie: »O Herrscher derGläubigen. Wir waren deine Gefangenen, jetzt sind wir, nachdem du uns das Gastrecht gewährt und uns bewirtet hast, deine Gäste. Begnadige uns um deinetwillen, damit man nicht erzählt, der Herrscher habe seine Gäste umgebracht.«
Sie wurden freigelassen. Deshalb waren viele Herrscher in ihrem Zelt vorsichtig mit der Erfüllung von Wünschen eines Gefangenen, denn nur dann galt dieser als Gast.
Waren viele Spielarten der Gastfreundschaft in der Wüste eine Notwendigkeit zum Überleben, so wirkt manche Erscheinung orientalischer Gastliebe in der Stadt von heute anachronistisch, da dort kaum einer je an Hunger oder Durst stirbt. Und Schutz für Leib und Leben darf im modernen Arabien nur noch der Staat geben.
Weder Freundlichkeit noch Großzügigkeit können veralten, aber manche Seite der Gastfreundschaft wirkt heute überkommen und fehl am Platz. Um das kurz und verständlich zu erklären, muss man sich eine Szene – wenn auch leicht zugespitzt – vor Augen führen:
Der Gastgeber hört die Klingel an seiner Tür. Er steht auf, unwillig, weil er ein wenig Ruhe braucht, aber keinesfalls Gäste. Er hatte vor, einen Brief zu schreiben, Familienrat zu halten oder einfach seinen Tee zu genießen. Nun öffnet er die Tür und sieht einen Freund mit Anhang (drei bis neun Personen) vor sich. Er sagt nicht etwa: »Was gibt es?« Oder: »Wen willst du mit dieser Truppe angreifen?« Oder: »Kannst du dich nicht vorher anmelden, wo du mich doch auch sonst täglich mit deinem Telefon traktierst?«
Nein, all das sagt er nicht. Er lächelt, um »sein Gesicht zu wahren« und nicht als Geizkragen zu gelten, und bittet die Gäste hinein, als hätte er auf sie gewartet. Und nun improvisiert er, spannt die ganze Familie und nicht selten auch noch die halbe Nachbarschaft für seine Blitzaktion ein, um aus demNichts den Gästen einen sich biegenden Tisch mit einem üppigen Mahl herbeizuzaubern. Am Ende sind der Gastgeber und seine Familie zwar restlos erschöpft, aber die Gäste sind zufrieden, und der Gastgeber ist gerettet. Er hat sein Gesicht gewahrt.
Gastfreundschaft hat also mit »Gesicht wahren« zu tun, mit dieser Last, für die ein Araber die Hälfte seiner Kraft verbraucht. Man will sich nicht blamieren, will nicht bloßgestellt werden. Man stürzt sich in Schulden, um die Gäste einer Hochzeit so voll zu stopfen, dass sie magen- und leberkrank werden. Hauptsache, die Gäste erzählen hinterher, wie großartig die Hochzeit war.
Man geht nicht selten verspannt auf einen Besucher zu und will doch nur, dass der Gast fühlt, er sei willkommen. Es ist eine verrückte Situation. Man will eine sehr gute Note vom Gast bekommen und ist zugleich sein Prüfer. Der Gast ist dauernd unter Druck. Ein Symptom dieser Stresssituation ist die verpflichtende Sitte, dass der Gastgeber aufhören muss zu essen, sobald sein Gast fertig ist. Es zählt als grobe Unhöflichkeit, wenn der Gastgeber dann weiter seine eigentlich mehr als verdiente Mahlzeit genießt (er hat ja die ganze Zeit kaum gegessen, weil er sich dauernd und ohne eine Sekunde Entspannung um den Gast gekümmert und ihn mit Essen und Getränken bedient hat). Nein, er hört sofort auf, räumt das Mahl fort und eilt von nun an immer wieder unter Ausreden in die Küche und stillt seinen Heißhunger auf barbarische und ungesunde Art. Warum? Es gibt für dieses Verhalten gar keine rationale Erklärung. Hier verkehren sich die Rollen, und das ganze Konzept der Gastfreundschaft verkehrt sich ins Absurde. Der Gastgeber ist unter seinem Dach fremd und schüchtern, und er isst heimlich, während sein Gast gerade arabischen Kaffee trinkt, um in aller Ruhe zu verdauen.
Nicht die Menschen sind schlechter geworden, sondern der Anachronismus mancher Erscheinungsform der Gastfreundschaft ist die Ursache dafür, weshalb die Gastfreundschaft in vielen Städten zur nicht ernst gemeinten Floskel der Höflichkeit heruntergekommen ist. Man lernt als Besucher inzwischen langsam, dass der Araber die temperamentvolle Einladung gar nicht so meint, wie er sie ausspricht, sondern nur als unverbindliche Höflichkeit. Viele Einladungen sollte man daher lieber zunächst ablehnen und abwarten, bis der Gastgeber die Einladung zum dritten Mal wiederholt. Erst dann sollte
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