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Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick

Titel: Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Syrien nach 400 Jahren osmanischer und über fünfundzwanzig Jahren französischer Besatzung. Die Franzosen trieben als erfahrene Kolonialisten Keile zwischen die Religionsgemeinschaften. Sie privilegierten die Minderheiten der Drusen, Alawiten, Juden und Christen mit etwas mehr Bröseln von ihrem Tisch, um das Rückgrat der muslimischen Mehrheit zu brechen. Meine Eltern sind urchristliche Aramäer und hatten weder unter osmanischer noch französischer Besatzung Vorteile. Meine Vorfahren waren mehr oder weniger erfolgreiche Handwerker, Händler, Bauern, ja sogar Räuber, aber niemals hatte einer von ihnen in den letzten siebenhundert Jahren ein Amt inne. Trotzdem hatten meine Eltern große Angst. Gerüchte machten die Runde, dass die Muslime sich nun rächen und alle Christen umbringen würden. Meine Eltern flüchteten also im Frühsommer 1946 von Damaskus nach Malula indie Berge. Mein Vater kehrte schnell nach Damaskus in seine neu erworbene Bäckerei zurück und ließ mich, meine Mutter und meine zwei älteren Brüder in dem christlichen Dorf zurück.
    Er holte uns im Herbst nach Damaskus zurück, als es in der Hauptstadt endgültig ruhig wurde und sich zeigte, dass die Muslime keinem Christen auch nur ein Haar krümmten.
    Mein Vater hatte, wie gesagt, eine heruntergekommene Bäckerei gekauft, und er renovierte sie, ohne die Brotproduktion zu unterbrechen. Ich habe später eine solche Phase bei einer anderen Bäckerei miterlebt. Es ist eine wahre Hölle aus Staub, Mehl und schreienden Menschen.
    Erst kurz vor Weihnachten 1946 hatte mein Vater Zeit und ging zur Behörde, um mich eintragen zu lassen. Als der Beamte ihn fragte, wann das Baby geboren wurde, antwortete mein Vater: »Gerade!« Er hatte Angst, dass er, wenn er dem Beamten sagen würde, ich sei bereits sechs Monate alt, eine Strafe für die Verzögerung zahlen müsste.
    »Was heißt gerade?! Vor einem Tag, einem Monat oder einem Jahr?«, fragte der Beamte routiniert.
    »Vor ein paar Tagen«, antwortete mein Vater und zitterte.
    »Das sagen doch alle«, brummte der Beamte und trug willkürlich den 23.6.1946 ein. Und in diesem Vorgang steckt der ganze Orient, nicht nur, dass man dort sogar mit Daten handelt, sondern auch die Angst, die Lüge und die Willkür.
     
    Sicher ist: Am 18.3.1971 flog ich nach dreimonatigem Aufenthalt in Beirut nach Ost-Berlin und von da am nächsten Tag nach Westdeutschland. In diesem Jahr also feiere ich nicht nur das Glück, dass ich fünfzig werden durfte, sondern mein Leben teilt sich in diesem Jahr genau in zwei Hälften. Fünfundzwanzig Jahre in meiner Heimat und genauso lang im Exil.Nie hätte ich gedacht, dass ich so lang im Ausland leben würde. Ich träumte als Kind, vor allem wenn es mir schlecht ging, oft von Reisen, aber das führte ich in meiner Phantasie klug wie alle Kinder der Welt blitzschnell aus, um mich gleich wieder bei Oliven, Thymian und Schafskäse aus Mutters Händen in Sicherheit zu fühlen. Ich war eine Schwalbe, und Damaskus ist eine der schönsten Städte der Welt. Ich leide unter der Liebe zu dieser Stadt seit genau fünfundzwanzig Jahren.
     
    Doch so feierlich die Zahl Fünfzig mich berührt, verpflichtet sie mich zu einem Rückblick, zu einer kritischen Betrachtung meiner Erfahrung auf der langen Reise der Schriftstellerei. Ich überlegte mir eine Rahmenhandlung, ein Bild, das zu meinem Weg passt. Ich fand, obwohl ich alles andere als sportlich bin, den Hürdenlauf als die beste aller Metaphern für meine literarische Arbeit. Ich könnte wohl viel dramatischere Bilder wählen, vom Schreiben als Balanceakt über einem Abgrund oder als ständigem Kampf im Käfig der Einsamkeit, aber das würde die Betrachtung fälschen, denn diese Bilder entsprechen nur kurzen Phasen in meinem Leben.
    Mein Weg führte ins Exil, in dessen Labyrinth ich immer noch und nicht ohne Vergnügen lebe. Von dessen Eingang habe ich noch eine Erinnerung, vom Ausgang träume ich, doch in dessen Mitte bin ich nicht nur verloren. Ich bin wie im Bauch der Mutter geborgen.
    Zwei Quellen geben mir heute die Kraft, diesen Rückblick ohne Verbitterung zu vollziehen. Es sind einmal das Glück im Privatleben mit meiner großartigen Frau Root Leeb und meinem Sohn Emil. Zum anderen mein traumhafter Erfolg, der ja sehr viel mit Wärme spendender Anerkennung zu tun hat.
    Erfolg ist nicht so schlecht wie sein Ruf. Aber dazu noch später.
    Die erste Hürde, die ich auf meinem Weg überwinden musste, heißt:
     
    Der Vater
     
    Mein Vater stammt

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