Damenschneider
Junge normal entwickeln.«
Geräuschvoll stellte Walz seine Tasse ab und stützte sich auf seinen Ellenbogen.
»Das ist leider das Schicksal vieler Wunderkinder. Er ist wenigstens in seinem Beruf erfolgreich, aber stell dir vor, er wäre es nicht, was würde dann übrig bleiben? Eine wandelnde Neurose. Hat ihn der Tod seiner Mutter wirklich so wenig berührt, oder war das vorhin alles nur Schauspielerei?«
Nach kurzem Nachdenken schaute Clara ihm zärtlich in die Augen, woraufhin er sie einfach küssen musste.
Von seinem Standpunkt aus gesehen hätte sie auch erst in einer Stunde antworten können.
»Natürlich war er bekümmert«, sagte sie unbeeindruckt von Walzens Werbungsversuchen, »aber trotz allem habe ich bei ihm auch eine Befreiung gespürt. Er wirkte plötzlich viel gelöster auf mich. Ich hatte fast den Eindruck, dass mit ihrem Tod ein ungeheurer Druck von ihm abfiel. Du musst wissen, dass sie seine schöne Stimme allein als ihr Verdienst betrachtete und davon träumte, ihren Sohn eines Tages durch die Welt zu begleiten, um ihn auf allen Opernbühnen bewundern zu können. Je mehr sie sich in diesen Gedanken vernarrte, desto größer wurde der Druck auf Florian. Jedem erzählte sie davon, wie sie eines Tages seine Triumphe erleben würde, als wäre all das ausschließlich ihr Verdienst. Nach einem Gespräch mit seinem Lehrer, mit dem sie natürlich auch darüber geredet hatte, war sie ziemlich konsterniert, als er ihr mitteilte, dass es nicht zwingend sein müsse, dass er nach dem Stimmbruch seine schöne Gesangsstimme behalte.«
»Das war ihr nicht klar gewesen?«, fragte Walz überrascht. »Das weiß doch jeder, der sich auch nur ein wenig in diesem Metier auskennt.«
»Ja, aber sie glaubte ihm nicht und behauptete allen Ernstes, dass nur ein unfähiger Pädagoge so etwas behaupten könne. Sie machte bei den Sängerknaben einen solchen Aufstand, bis ihr schließlich nahegelegt wurde, Florian von der Schule zu nehmen. Das wollte sie dann doch nicht. Du ahnst ja nicht, wie sie war. Wenn sie einmal von einer Idee besessen war, gab es niemanden, der sie davon abbringen konnte. Sie ist einmal einem Tenor, über den von irgendjemandem behauptet wurde, er singe den berührendsten Cavaradossi seit Domingo in seiner besten Zeit, nach Sydney hinterher gereist, obwohl ich den Sänger selbst einmal in Linz in dieser Rolle gehört habe und ihr versicherte, dass diese Behauptung der größte PR-Coup seit dem Penisbruch von Dieter Bohlen sei. Er war nicht einmal durchschnittlich gewesen damals, mit einer flatterigen Höhe und dem Darstellungstalent eines Holzklotzes. Sie war aber davon nicht abzubringen und ist dann tatsächlich nach Australien gereist. Über 20 Stunden Flug für einen Sänger, dessen Qualität nicht einmal für die Volksoper gereicht hätte! Aber so war sie eben«, setzte sie seufzend hinzu.
»Und hat sie es dann wenigstens zugegeben, dass es ein Reinfall war?«
»Natürlich nicht! Ich habe sie zwar danach gefragt, aber sie hat mir keine Antwort darauf gegeben. Manchen Menschen fällt es eben schwer, Fehler einzugestehen«, sagte sie achselzuckend. »Und wenn man einen solche Menschen zufälligerweise zur Mutter hat, dann ist es kein Wunder, dass man kein Selbstvertrauen entwickeln kann.«
»Über den Bilovic hat er sich auch nicht sehr schmeichelhaft ausgelassen.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Clara lachend. »Für zwei Egozentriker solchen Grades wäre jedes Zimmer zu klein.«
»Ich gelobe es«, sagte Walz feierlich, »das nächste Mal werde ich sehr freundlich zu ihm sein und ihm auch ganz gewiss bei seinem nächsten Arienabend zujubeln. Gibt es, abgesehen von dem Mangel an Fußballkameraden, eigentlich irgendjemanden, der mit ihm befreundet ist oder gar eine intime Beziehung zu ihm unterhält?«
»Das ist schon seltsam, über sein Sexualleben weiß ich eigentlich gar nichts. Obwohl ich ihn wahrlich schon lange kenne, habe ich ihn niemals in einem zärtlichen Umgang mit einem Mädchen oder einem Burschen gesehen. Er hat mir auch niemals etwas darüber erzählt, obwohl wir uns doch gut kennen. Selbst wenn ich ihn einmal scherzhaft danach gefragt habe, als ältere Freundin wohl gemerkt, ist er mir immer ausgewichen. Ich weiß nicht einmal, ob er homo oder hetero ist.«
»Das ist wirklich eigenartig«, sagte Walz nachdenklich. »Für solch einen Mann, gefeierter Sänger, blendend aussehend – da müsste sich doch jemand finden … Vielleicht ist er ja auch impotent.«
»Das wäre
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