Damiano
Wein in der Korbflasche, dann noch einen von der Medizin seines Vaters. Sie sollte ihm Glück bringen. Danach trat er in die Kälte hinaus.
Nach einer halben Meile Marsch hatten sich die Kopfschmerzen ins Unerträgliche gesteigert, und das Licht der Morgensonne, das blendend hell auf dem Schnee lag, stach ihm in die Augen. Tränen rannen ihm die Wangen herab, nicht einmal die Hündin vermochte ihn etwas aufzumuntern. Damiano war nicht allzu weit davon entfernt, sich zu wünschen, er wäre tot. Aber der Gedanke, sich im Schnee zusammenzurollen und einzuschlafen, war doch wieder nicht so verlockend.
»Wir kommen heute noch hin, und zwar bald«, murmelte er. »Hätte uns nicht das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht, so hätten wir die Almen vielleicht schon gestern bei Einbruch der Dunkelheit erreicht.«
Er hielt nach den Hütten Ausschau, in denen die Berghirten und einige Jäger lebten. Das nächste richtige Dorf war Pont Saint Martin, auf der Nordstraße zwei Meilen von der Stelle entfernt, wo Damiano abgebogen war; das war der Grund, weshalb diese armselige Ansiedlung als Sous Pont Saint Martin bekannt war. Damiano war nur einmal im Sommer dort gewesen, als man seinen Vater zur Behandlung derer geholt hatte, die an einer geheimnisvollen Krankheit gelitten hatten.
Das Schneetreiben des vergangenen Abends war über die Straße hingefegt, dann war der Wind gekommen und hatte an manchen Stellen die Erde blankgeputzt und nur die erhöhten Schneespuren von Menschen und Pferden zurückgelassen, die jetzt wie Linksabdrücke wirkten. Wer konnte wissen, wie alt sie schon waren.
Zu beiden Seiten der Straße fielen die Hänge ab, und die beiden Wanderer kamen zu einem Fluß, dem Lys. Breit und wild strömte er dahin, obwohl die Ufer auf beiden Seiten von Eis verkrustet waren, die wie Scherben abgebrochenen Glases über dem Wasser hingen. Eine steinerne Brücke führte über den Fluß. Sie war breit und eben, zu beiden Seiten durch hüfthohe Mauern abgeschlossen. Es war ein Bauwerk, wie es die Leute dieser Gegend als typisch römisch abtaten: schwerfällig, nützlich, auf Dauer gebaut. Es gab keinen Beweis dafür, daß die Brücke ein Werk der alten Römer war; dafür sprach höchstens die Tatsache, daß kein Piemonter sich wegen einer Brücke im Gebirge solche Mühe gemacht hätte. Die Arbeit der Römer war wie die Berge selbst: Ob Menschen dieser Tage solche Dinge errichten konnten oder nicht, sie standen umsonst zur Verfügung und sollten daher nicht allzusehr bewundert werden.
Als er über den Brückenbogen ging, traf ihn der Wind und riß seinen Kopf nach links, von wo der Fluß kam. Er trat sich mit dem linken Fuß auf den rechten, und dann blieb er stehen wie angewurzelt.
»Heilige Mutter Gottes! Ist es möglich?« rief er und ließ sich im nassen Schnee auf die Knie fallen.
In endloser Kette hoben sich die Gipfel der Berge vom Himmel ab; eine ehrfurchtgebietende weiße Phalanx, blendend weiß von ihren zackigen Spitzen bis zu ihren weitläufigen Wurzeln. Sie waren so hoch, daß sie den Himmel berührten und wuchsen noch, als sie auf den knienden Damiano einzustürzen schienen. In ihrem Schweigen waren alle Stimmen eines unirdischen Chores der Unendlichkeit geborgen.
Zwei Gipfel dominierten. Linkerhand war die höchste Spitze des Aostatals, der Monte Emilius, den die Bauern den Großvater nannten. Die Wurzeln des rauhen, in der Sonne funkelnden Gesellen reichten fast bis zur Straße. Rechts, weit entfernt, hinter einer Palisade von Bergen, ragte aus rosigem Schimmer eine einzige weiße Spitze in die Höhe, so spitz wie der Zahn eines Hundes und an ihrem Ende leicht gebogen. Damiano wußte nicht, daß dieser Berg das’ Matterhorn war.
Während er kniend auf die Berge blickte, weinte er, da er wußte, daß die Schönheit, die er sah, wie die Raphaels sein mußte, würde der Erzengel plötzlich sein kleines menschliches Mäntelchen abwerfen und als Flamme göttlicher Liebe erscheinen. Das würde der Engel natürlich niemals tun, da er um die Grenzen der Menschen wußte. Die Berge jedoch waren weniger gnädig. Damianos Ekstase versprach ihm Schaden zu tun.
»Herr! Steh auf! Bitte, deine Knie sind schon ganz naß. Herr! Damiano! Wo hast du Schmerzen?«
Macchiata sprang im Kreis um ihn herum und stupste seine Hände mit ihrer kalten Nase an.
»Meine Kleine, ich sehe Schönheit, bei deren Anblick ein Mensch am liebsten sterben möchte. Siehst du sie denn nicht – die – die Throne der
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