Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
forderte der Polizist ihn auf.
»Ich bin mir nicht sicher«, wiederholte der alte Mann.
Henry traute seinen Ohren nicht. Wieso konnte der Mann ihn nicht identifizieren? Schließlich hatte er mit einer Waffe auf ihn gezielt, direkt vor seinen Augen.
Doch da keine eindeutige Identifizierung möglich war, ließ man Henry laufen. Er ging nach Hause und legte sich aufs Bett. Er sagte sich, dass er das Gott zu verdanken habe. Gott gab ihm noch eine Chance. Und er wollte auf jeden Fall, dass Henry nicht mehr stahl, Drogen nahm und Menschen bedrohte.
Gott hatte wahrscheinlich recht.
Aber Henry wollte noch immer nicht auf ihn hören.
Im Jahre 1974 …
… sitze ich in meiner religiösen Oberschule im Unterricht. Es geht gerade um die Teilung des Roten Meeres, und ich gähne. Was soll ich noch darüber lernen? Das habe ich doch schon hunderttausend Mal gehört. Ich spähe zu einem Mädchen hinüber, das mir gefällt, und überlege mir, wie ich es wohl auf mich aufmerksam machen könnte.
»Dazu gibt es eine talmudische Auslegung«, sagt der Lehrer.
Na toll, denke ich mir. Das heißt, wir müssen gleich was übersetzen, was immer zäh und mühsam ist. Doch dann finde ich die Geschichte zunehmend interessanter.
Nachdem die Israeliten unversehrt das Rote Meer durchquert hatten, wurden sie von den Ägyptern verfolgt, die dabei ertranken. Die Engel Gottes wollten den Untergang der Feinde feiern.
Dem Kommentar zufolge sah Gott dies und sprach erzürnt: »Ihr sollt nicht feiern. Denn auch jene waren meine Kinder.«
Auch jene waren meine Kinder.
»Was denkt ihr darüber?«, fragt der Lehrer.
Ein anderer beantwortet diese Frage. Doch auch ich weiß, was ich denke. Dass ich zum ersten Mal gehört habe, dass Gott die »Feinde« ebenso liebt wie uns.
Jahre später erinnere ich mich nicht mehr an das Klassenzimmer, den Namen des Lehrers, das Mädchen. Aber diese Geschichte habe ich nicht vergessen.
JULI
Die wichtigste Frage
I ch habe gelernt, dass es bei jedem Gespräch mindestens drei Teilnehmer gibt: dich, dein Gegenüber und Gott.
Diese Lektion wurde mir an einem heißen Sommertag im Büro von Albert Lewis erteilt. Der Rebbe und ich trugen beide kurze Hosen. Meine Beine klebten an dem grünen Leder des Sessels fest und ließen sich nur mit einem komischen Schmatzgeräusch anheben.
Der Rebbe suchte einen Brief – unter einem Block, einem Umschlag, einer Zeitung. Ich wusste, dass er ihn nicht finden würde. Das Tohuwabohu in seinem Büro war wohl inzwischen eine Art Spiel für ihn, mit dem er sich das Leben abwechslungsreicher gestaltete. Während ich wartete, fiel mein Blick auf den Aktenordner mit der Aufschrift »Gott« im Regal. Wir hatten ihn immer noch nicht angeschaut.
»Ach«, seufzte der Rebbe und gab auf.
Darf ich Ihnen eine Frage stellen?
»Nur zu, junger Schüler«, trällerte der Rebbe.
Woher wissen Sie, dass es Gott gibt?
Ein Lächeln trat aufs Gesicht des Rebbe.
»Eine hervorragende Frage.«
Er legte die Finger ans Kinn.
Und die Antwort?, fragte ich.
»Zunächst sollten Sie versuchen, seine Existenz zu verleugnen.«
Gut, sagte ich, und nahm die Herausforderung an. Wie wär’s hiermit: Wir leben in einer Welt, in der man die Gene bestimmen und die Zellen klonen und ein Gesicht operativ verändern kann. Man kann sich sogar vom Mann zur Frau umoperieren lassen. Die Naturwissenschaften erklären uns, wie die Erde entstanden ist, und Raketen erforschen das Weltall. Die Sonne ist kein Mysterium mehr. Und der Mond, den die Menschen früher anbeteten? Wir haben Stücke davon in einem Beutel zurückgebracht, nicht wahr?
»Weiter«, sagte der Rebbe.
Warum sollte man also an einem Ort, an dem alle großen Geheimnisse enträtselt wurden, noch immer an Gott, Jesus, Allah oder andere höhere Mächte glauben? Ist das nicht hinfällig geworden? Ist das nicht so wie mit Pinocchio, der Geppetto mit ganz anderen Augen betrachtete, als er merkte, dass er sich auch ohne Fäden bewegen konnte?
Der Rebbe legte die Finger aneinander.
»Das war eine große Rede.«
Sie haben gesagt, ich solle Gottes Existenz zu leugnen versuchen.
»Ah.«
Er beugte sich vor. »Gut. Und jetzt bin ich dran. Wenn Sie sagen, dass die Wissenschaften schlussendlich beweisen werden, dass es Gott nicht gibt, muss ich Ihnen widersprechen. Egal wie sorgfältig sie auch alles bis ins kleinste Teilchen zerlegen – es wird immer etwas geben, das sich nicht erklären lässt, etwas, das auch dieses letztendlich geschaffen hat.
Und sosehr sie
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