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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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zu ihm. Der Mann ist außer sich, und ich spreche ihm mein Beileid aus. Darauf sagt er wütend: ›Ich beneide Sie.‹
    ›Warum denn?‹, frage ich.
    ›Wenn Sie einen geliebten Menschen verlieren, können Sie Gott verfluchen. Sie können klagen und schreien und Gott die Schuld geben. Aber ich glaube nicht an Gott. Ich bin Arzt ! Und ich konnte meinem Bruder nicht helfen!‹
    Er war den Tränen nahe. ›Und wem soll ich nun die Schuld geben?‹, fragte er mich immer wieder. ›Es gibt ja keinen Gott. Ich kann mich also nur selbst beschuldigen.‹«
    Der Rebbe sah so gequält aus, als habe er Schmerzen.
    »Das«, sagte er leise, »ist eine schlimme Lage.«
    Schlimmer als ein unerhörtes Gebet?
    »Oh ja. Es ist weitaus tröstlicher zu glauben, dass Gott zugehört und Nein gesagt hat, als zu glauben, dass dort draußen niemand ist.«

Henrys Leben

    H enry war jetzt beinahe dreißig. Er war kriminell und drogensüchtig und hatte Gott belogen. Dass er eine Frau hatte, hielt ihn von keiner Schandtat ab. Dass er eine Tochter hatte, hielt ihn von keiner Schandtat ab. Dass er kein Geld und keine coolen Klamotten mehr hatte und seine Haare nicht mehr gestylt waren, hielt ihn von keiner Schandtat ab.
    An einem Samstagabend war er so versessen darauf, high zu werden, dass er mit zwei anderen Männern nach Jamaica in Queens fuhr, zu den einzigen Leuten, von denen er wusste, dass sie sowohl Geld als auch Stoff hatten: zu den Drogendealern, für die er arbeitete.
    Er klopfte an die Tür. Sie machten auf.
    Henry hielt ihnen eine Knarre vors Gesicht.
    »Was soll das?«, fragten sie ungläubig.
    »Das seht ihr doch, oder?«
    Die Waffe war nicht mal geladen, was die Dealer zum Glück nicht wussten. Henry brüllte: »Los doch«, und sie händigten ihm Geld, Schmuck und Drogen aus.
    Darauf zog Henry mit den beiden Männern ab. Seinen Freunden gab er die Wertsachen, den Stoff behielt er für sich. Sein Körper verlangte danach. Henry konnte an nichts anderes mehr denken.
    Später, nachdem er sich zugedröhnt und auch noch Alkohol getrunken hatte, kam er auf Paranoia, und ihm wurde bewusst, was er angerichtet hatte. Seine Opfer wussten, wo er wohnte. Sie würden sich rächen.
    Deshalb schnappte Henry sich seine Knarre, ging vors Haus und versteckte sich hinter den Mülltonnen. Seine Frau hatte Angst.
    »Was ist los?«, fragte sie weinend.
    »Lichter aus!«, schrie Henry.
    Er sah seine Tochter in der Tür stehen.
    »Haustür zu!«
    Zitternd hockte er da und wartete. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er heute Abend dran war, nachdem er bislang immer davongekommen war. Bald würde das Auto seiner Bosse um die Ecke biegen, und er würde in einem Kugelhagel sterben.
    Deshalb wandte er sich ein letztes Mal an Gott.
    »Rette mich bitte, Jesus«, flüsterte er. »Rettest du mich, wenn ich verspreche, dir von jetzt an zu folgen?« Er weinte und atmete schwer. Wenn es ihm nach all seinen Vergehen immer noch erlaubt war zu beten, dann war dies schon beinahe ein richtiges Gebet. »Bitte, erhör mich, Jesus …«
    Er war ein schwieriges Kind gewesen.
    Ein straffälliger Jugendlicher.
    Ein böser Mann.
    Konnte seine Seele noch errettet werden?

Der einzige Tyrann, den ich in dieser Welt anerkenne,
    ist die leise Stimme im Inneren.
    MAHATMA GANDHI

AUGUST
Warum Krieg?

    D er Sommer verging schnell. Der Irakkrieg war in den Schlagzeilen und ein Rechtsstreit über die Entfernung eines Steines mit den Zehn Geboten aus einem Gerichtsgebäude in Alabama. Manchmal stand mir der Sinn danach, den Rebbe auch zwischen meinen Besuchen anzurufen. Wenn er abnahm, klang er immer fröhlich.
    »Spricht dort Detroit?«, sagte er beispielsweise.
    Oder: »Hier ist die Rabbi-Hotline, was kann ich für Sie tun?«
    Beschämt dachte ich daran, wie lieblos ich manchmal das Telefon abnahm (mit einem hastigen »Hallo?«, als sei ich eigentlich an dem Anrufer gar nicht interessiert). Ich glaube nicht, dass ich vom Rebbe jemals den Satz »Ich rufe zurück« gehört habe. Ich fand es bewundernswert, wie dieser Mann, der so vielen zur Verfügung stehen musste, das auch wirklich in die Tat umsetzte.
    Als ich den Rebbe Ende August wieder besuchte, öffnete mir Sarah die Tür, seine gütige und kluge Frau, mit der er seit sechzig Jahren zusammen war, und führte mich ins Büro. Der Rebbe saß schon an seinem Schreibtisch. Trotz der Hitze trug er ein langärmliges Hemd. Seine dichten weißen Haare waren sorgfältig gekämmt, aber er stand nicht auf, sondern breitete nur die Arme

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