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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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übel genug. Aber religiöse Heuchelei fand ich ganz besonders unerträglich. Fernsehprediger, die den Leuten das Geld aus der Tasche zogen, verhaftet wurden und bald darauf unter dem Deckmäntelchen der Reue ihr unrechtmäßiges Treiben fortsetzten – derlei war mir zuwider. Einerseits wollte ich Henry Covington sehr gerne vertrauen. Aber ich wollte auch nicht naiv sein.
    Und, offen gestanden, hatte ich mit Gotteshäusern wie seinem keine Erfahrung. Es wirkte so kaputt und behelfsmäßig. Im oberen Stockwerk, erklärte er mir, wohnten fünf Mieter in einfachen Zimmern.
    Augenblick mal. In Ihrer Kirche wohnen Leute?
    »Ja, ein paar. Sie bezahlen sogar ein bisschen Miete.«
    Und wovon bezahlen Sie Ihre Rechnungen?
    »Hauptsächlich von diesen Mieten.«
    Und was ist mit Beiträgen der Gemeindemitglieder?
    »Gibt’s nicht.«
    Wer bezahlt dann Ihr Gehalt?
    Er lachte.
    »So was hab ich nicht.«
    Wir traten hinaus ins Sonnenlicht. Der Einbeinige saß noch immer an derselben Stelle. Er lächelte mir zu, und ich zwang mich, das Lächeln zu erwidern.
    Gut, Herr Pastor, wir hören voneinander, sagte ich.
    Dabei war ich mir aber durchaus nicht sicher, ob ich das auch so meinte.
    »Sie sind herzlich willkommen zum Sonntagsgottesdienst«, sagte er.
    Ich bin aber kein Christ.
    Er zuckte die Achseln. Ob das bedeuten sollte, dass ich dennoch willkommen sei oder aber dass ich lieber wegbleiben solle, war mir allerdings nicht ganz klar.
    Waren Sie schon mal in einer Synagoge?, fragte ich ihn.
    »Ja«, antwortete er. »In meiner Jugend.«
    Aus welchem Anlass?
    Er blickte verlegen unter sich.
    »Wir haben sie ausgeraubt.«

OKTOBER
Alt

    D er Parkplatz der Synagoge war so voll, dass die Autos noch einen Kilometer weiter die Straße säumten. Es war Jom Kippur, Versöhnungstag, der wichtigste Tag im jüdischen Kalender. An diesem Tag, so heißt es, entscheidet Gott, wer ein weiteres Jahr ins Buch des Lebens eingeschrieben wird.
    An diesem Tag lief der Rebbe immer zu Hochform auf; für diesen Morgen schien er sich seine besten Predigten einfallen zu lassen. Es kam selten vor, dass die Gemeinde nicht auf dem Heimweg darüber debattierte, wie die heutige Botschaft des Rebbe zu Leben, Tod, Liebe und Vergebung zu verstehen war.
    Doch nun war auch diese Ära zu Ende gegangen. Der Rebbe war neunundachtzig Jahre alt, und er hielt keine Predigt mehr. Er stand nicht mehr am Pult. Er saß stattdessen zwischen den anderen Gläubigen, und ich saß ein paar Reihen weiter neben meinen Eltern, wie ich es schon mein ganzes Leben lang getan hatte.
    Und an diesem Tag sah es auch tatsächlich so aus, als würde ich zur Gemeinde gehören.
    Während des Nachmittagsgottesdienstes in der Synagoge ging ich zum Rebbe hinüber. Ich drängte mich an ehemaligen Klassenkameraden vorbei, deren Gesichter mir noch vage bekannt vorkamen, wenn sie auch durch Brillen, schütteres Haar oder dickere Backen ziemlich verändert wirkten. Sie lächelten und begrüßten mich im Flüsterton; sie schienen mich schneller zu erkennen als ich sie, und ich fragte mich, ob sie mich wohl für überheblich hielten, weil ich ein anderes Leben führte als sie. Vielleicht hätten sie damit sogar recht gehabt; ich glaube, ich strahlte das aus.
    Der Rebbe saß ein paar Plätze vom Gang entfernt und klatschte zu einem schnellen Gebet. Er trug einen hellen Talar. Der Rollator, den er höchst ungern in der Öffentlichkeit benutzte, stand an der Wand. Sarah saß neben ihm, und als sie mich sah, stupste sie ihren Mann an, der darauf zu mir herüberschaute.
    »Ah«, sagte er. »Eigens aus Detroit angereist.«
    Seine Familie half ihm beim Aufstehen.
    »Kommen Sie«, sagte er zu mir, »lassen Sie uns reden.«
    Langsam bewegte er sich an den anderen vorbei, die Platz machten und ihm die Hände entgegenstreckten, falls er Hilfe brauchte. Alle wirkten fürsorglich und respektvoll zugleich.
    Der Rebbe packte seinen Rollator und machte sich auf den Weg.
    Da er alle paar Schritte stehenblieb, um jemanden zu begrüßen, dauerte es gut zwanzig Minuten, bis wir uns schließlich in dem kleinen Büro gegenüber seines einstigen großen Büros niederließen. Ich hatte noch nie zuvor am heiligsten Tag des Jahres ein Privatgespräch mit dem Rebbe geführt. Es fühlte sich sonderbar an, mit ihm in diesem Büro zu sitzen, während alle anderen draußen waren.
    »Ist Ihre Frau auch da?«, fragte er.
    Bei meinen Eltern, antwortete ich.
    »Gut.«
    Der Rebbe war immer herzlich zu meiner Frau gewesen und hatte sich nie

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