Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
bin ich der Mann im Mond .
»Hallo«, schnaufte der Mann und streckte mir die Hand hin. »Ich bin Henry.«
Aus einer Predigt des Rebbe (1981)
»Ein Militärpfarrer hat mir folgende Geschichte erzählt: Die Tochter eines Soldaten, der an einen anderen Stützpunkt verlegt wurde, saß am Flughafen zwischen den wenigen Habseligkeiten der Familie.
Die Kleine war schläfrig und lehnte sich an die Kartons und Matchsäcke.
Eine Frau blieb stehen und tätschelte ihr den Kopf.
›Armes Kind‹, sagte sie. ›Du hast kein Zuhause.‹
Das Mädchen blickte erstaunt auf.
›Aber wir haben doch ein Zuhause!‹, erwiderte es. ›Nur kein Haus, wo wir es reintun können.‹«
SEPTEMBER
Was ist Reichtum?
D er Rebbe benutzte jetzt einen Rollator zum Gehen. Ich hörte das Ding drinnen rumpeln, als ich im September, drei Wochen nach meinem Besuch bei ihm im Krankenhaus, vor seiner Haustür wartete. Die Blätter begannen sich zu verfärben, und mir fiel auf, dass ein fremder Wagen auf der Zufahrt stand. Ich hörte den Rebbe singen: »Ich bin un-terwegs … bitte waharten … bin un-terwegs …«
Die Tür ging auf, und der Rebbe lächelte mich an. Er war inzwischen viel dünner als bei meinem ersten Besuch; seine Arme wirkten noch knochiger, und sein Gesicht sah ein wenig eingefallen aus. Seine Haare waren schlohweiß, und er stand sehr gekrümmt und umklammerte dabei die Griffe des Rollators.
»Sagen Sie meinem neuen Gefährten guten Tag«, verkündete er und klapperte mit den Griffen. »Wir gehen jetzt überall zusammen hin.«
Er senkte die Stimme. »Ich kann ihn einfach nicht abschütteln !«
Ich lachte.
»Also, kommen Sie rein.«
Ich folgte dem Rebbe, wie immer. Mühsam arbeitete er sich zu seinem Büro mit den vielen Büchern und dem Aktenordner über Gott voran.
Der fremde Wagen gehörte einer ambulanten Krankenbetreuerin, die jetzt immer ins Haus kam, um dem Rebbe behilflich zu sein. Es bestand nun kein Zweifel mehr daran, dass sein Körper ihn ohne Vorwarnung einfach im Stich lassen konnte, dass also etwas passieren konnte. Der Tumor in Albert Lewis’ Lunge war noch da. Die Ärzte waren der Ansicht, dass das Risiko einer Operation angesichts seines fortgeschrittenen Alters – er war jetzt neunundachtzig – zu hoch war. Eigenartigerweise verlangsamte sich das Wachstum des Tumors, als der Rebbe selbst in allem langsamer wurde – die beiden waren wie zwei Wettläufer, die sich nun erschöpft zum Ziel schleppten.
Es sei wahrscheinlicher, dass der Rebbe am Alter als an seiner Krebserkrankung sterben würde, meinten die Ärzte.
Als wir uns den Flur entlangbewegten, wurde mir bewusst, dass mir das Auto noch aus einem anderen Grund aufgefallen war: Seit ich Albert Lewis vor sechs Jahren zum ersten Mal besucht hatte, war dieses Haus quasi unverändert geblieben. Die Möbel waren unverändert. Der Teppich war derselbe wie eh und je. Der Fernseher war der alte.
Dinge hatten dem Rebbe noch nie am Herzen gelegen.
Andererseits hatte er auch sein Leben lang nicht viel sein Eigen genannt.
Albert Lewis kam im Jahre 1917 zur Welt, und seine Eltern waren auch nach den damaligen Maßstäben arme Leute. Seine Mutter war aus Litauen eingewandert. Sein Vater war als Textilvertreter tätig, jedoch häufig arbeitslos. Sie wohnten in einem überfüllten Wohnblock an der Topping Avenue in der Bronx. Es gab wenig zu essen. Jeden Tag, wenn der kleine Albert aus der Schule kam, betete er, dass die Möbel seiner Eltern nicht auf dem Gehweg standen.
Er war das älteste von drei Kindern – nach ihm kamen noch eine Schwester und ein Bruder –, und er verbrachte jeden Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einer Religionsschule, einer Jeschiwa. Er besaß kein Fahrrad und keine schönen Spielsachen. Und das »himmlischste Mahl meiner Kindheit«, wie er mir erzählte, war zwei Tage altes Brot, das seine Mutter kaufte, mit Marmelade bestrich und ihm mit heißem Tee servierte.
Während der Weltwirtschaftskrise besaß Albert zwei Garnituren Kleider – eine für die Wochentage und eine für den Schabbat. Seine Schuhe waren geflickt, aber seine Socken wurden jeden Abend gewaschen. An seiner Bar Mizwa – dem Tag, an dem er gemäß seiner Religion zum Mann erklärt wurde – bekam er von seinem Vater einen neuen Anzug geschenkt, auf den er sehr stolz war.
Einige Wochen später fuhren sein Vater und er mit der Straßenbahn zu einem Verwandten, einem wohlhabenden Anwalt. Albert trug seinen neuen Anzug, und sein Vater hatte einen Kuchen
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