Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
flüchtig. Namen verlieren ihre Wichtigkeit und geraten im Lauf der Zeit ganz in Vergessenheit.
Wie kann man verhindern, dass man zum zweiten Mal stirbt?, fragte ich den Rebbe.
»Auf kurze Sicht«, sagte der Rebbe, »lässt sich diese Frage einfach beantworten. Durch die Familie. Wenn meine Familie meiner gedenkt, hoffe ich, dass ich noch ein paar Generationen lang in Erinnerung bleibe. Solange meine Familie sich an mich erinnert, lebe ich weiter. Auch dann, wenn sie für mich beten. All die Erinnerungen bleiben erhalten, das Lachen und die Tränen.
Doch auch das geht zu Ende.«
Wieso?
Den nächsten Satz sang der Rebbe.
»Wehenn ich es gut gemaacht habe …, denkt man noch eine Generaation an mich …, vielleicht sogar zwei …, doch daann … werden sie sagen: ›Wiehie war sein Nahame gleich wieder?‹«
Zuerst widersprach ich ihm. Als mir jedoch bewusst wurde, dass ich den Namen meiner Urgroßmutter nicht kannte, widersprach ich dem Rebbe nicht mehr. Ich hatte sie nicht mehr kennengelernt. Nach wie vielen Generationen lösen sich die Fäden auf, selbst in Familien mit engem Zusammenhalt?
»Deshalb«, sagte der Rebbe, »ist der Glaube so wichtig. Er ist wie ein Seil, an dem wir uns alle festhalten können, wenn wir den Berg erklimmen und wenn wir ihn wieder hinabsteigen. In einigen Jahren wird sich vielleicht niemand mehr an mich erinnern. Aber woran ich glaube und was ich gelehrt habe – über Gott und unsere Traditionen –, das besteht weiter. Und wenn es auch noch von meinen Enkeln und deren Enkeln erinnert wird, dann sind wir alle …«
… verbunden?
»Ganz genau.«
Wir sollten zum Gottesdienst zurückgehen, sagte ich.
»Stimmt. Ja. Sie könnten mir einen kleinen Schubs geben.«
Mir wurde klar, dass der Rebbe nicht mehr ohne Hilfe von seinem Schreibtischstuhl hochkam. Wie viel Zeit war vergangen, seitdem er als stattlicher Mann am Pult stand und seine beeindruckenden Predigten hielt und ich ehrfürchtig zu ihm aufblickte? Ich verdrängte den Gedanken, ging zum Rebbe hinüber, zählte »eins … zwei … drei« und zog ihn an den Ellbogen hoch.
»Aahhh«, seufzte er. »Alt, alt, alt.«
Aber Sie könnten bestimmt immer noch eine tolle Predigt halten.
Er packte seinen Rollator und hielt einen Moment inne.
»Meinen Sie wirklich?«, fragte er leise.
Ja, antwortete ich. Auf jeden Fall.
Im Keller von Albert Lewis’ Haus gibt es alte Filme von ihm, von Sarah und ihren Kindern:
Das junge Ehepaar in den fünfziger Jahren, mit ihrem ersten Kind, dem Sohn Shalom, auf dem Schoß.
Das Paar einige Jahre später mit ihren Zwillingsmädchen, Orah und Rinah.
1960, mit Gilah, der Jüngsten, im Kinderwagen.
Die Bilder sind körnig und unscharf, aber man sieht dennoch, wie glücklich der Rebbe wirkt, wenn er seine Kinder im Arm hält, sie umarmt und küsst. Er scheint wie geschaffen zu sein, eine Familie zu haben. Er schlägt seine Kinder niemals und wird auch selten laut. Schöne Erinnerungen in kleinen Happen: langsame Spaziergänge vom Gemeindezentrum nach Hause, Abende, an denen er seinen Töchtern bei den Hausaufgaben hilft, ausgedehnte Mahlzeiten am Schabbat mit langen Gesprächen, Sommertage, an denen er mit seinem Sohn Baseball spielt.
Einmal fährt er mit seinem Sohn und ein paar von Shaloms Freunden von Philadelphia über die Brücke. Als sie sich dem Mauthaus nähern, fragt der Rebbe die Jungen, ob sie ihre Pässe dabeihaben.
»Pässe?«, fragen sie.
»Was, ihr wollt nach New Jersey und habt keine Pässe dabei?«, schreit der Rebbe. »Schnell, versteckt euch unter dieser Decke und seid mucksmäuschenstill!«
Später zieht er die Jungen mit dieser Geschichte auf. Aber unter der Decke hinten im Auto entsteht eine neue Geschichte, über die Vater und Sohn noch Jahrzehnte später lachen werden. So entsteht ein Vermächtnis. Erinnerung um Erinnerung.
Die Kinder des Rebbe sind längst erwachsen. Sein Sohn ist ein bekannter Rabbiner. Seine älteste Tochter ist Bibliotheksleiterin, die jüngste Lehrerin. Alle haben sie bereits eigene Kinder.
»Es gibt dieses Familienfoto, auf dem wir alle drauf sind«, sagt der Rebbe. »Wenn ich den Hauch des Todes fühle, schaue ich mir dieses Foto an, auf dem wir alle lächeln. Und sage mir: ›Al, du hast es recht gemacht. Das hier ist deine Unsterblichkeit.‹«
Kirche
A ls ich die Kirche betrat, nickte mir ein magerer Mann mit hoher Stirn zur Begrüßung zu, überreichte mir einen weißen Umschlag für Spenden und bedeutete mir, dass ich mich setzen
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