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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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über ihren anderen Glauben ausgelassen. Das fand ich sehr fair.
    Wie geht’s Ihnen?, fragte ich.
    »Ach. Die wollen, dass ich heute was esse.«
    Wer?
    »Die Ärzte.«
    Das ist doch okay.
    »Ist es nicht.« Er ballte eine Hand zur Faust. »Heute ist Fastentag. So will es die Tradition. Ich will alles so machen wie immer.«
    Er ließ die Hand sinken. Sie zitterte.
    »Sehen Sie?«, flüsterte er. »Das ist das Dilemma des Menschen. Wir wehren uns dagegen.«
    Gegen das Altwerden?
    »Mit dem Altwerden kann man fertigwerden. Aber das Alt sein ist das Problem.«
    Seine für mich eindrucksvollste Predigt hielt der Rebbe, nachdem seine älteste Verwandte, eine seiner Tanten, gestorben war. Seine Eltern und seine Großeltern waren schon vor langer Zeit verstorben. Als er am Grab seiner Tante stand, kam ihm ein erschreckender Gedanke:
    Ich werde der Nächste sein .
    Wie verhält man sich, wenn man von der Hackordnung der Natur in die erste Reihe geschoben wird? Wenn man sich nicht mehr länger vormachen kann, man sei noch nicht dran ?
    Als ich den Rebbe jetzt so gebrechlich hinter seinem Schreibtisch sah, wurde mir schmerzhaft bewusst, dass er schon lange »der Nächste« in seiner Familie war.
    Wieso halten Sie keine Predigten mehr?, fragte ich ihn.
    »Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, mich womöglich zu versprechen«, antwortete er und seufzte. »Oder in einem wichtigen Moment nicht mehr weiterzuwissen …«
    Aber das braucht Ihnen doch nicht peinlich zu sein.
    »Es geht nicht um mich«, erwiderte er. »Es geht mir um die Gemeinde. Wenn die Leute mich so verwirrt erleben, erinnert sie das daran, dass ich bald sterben werde. Ich will ihnen nicht solche Angst machen.«
    Ich hätte wissen müssen, dass er nur unser Wohl im Sinn hatte.
    Als Kind glaubte ich, dass es das Buch des Lebens wirklich gab – in meiner Vorstellung war es ein riesiger staubiger Foliant in der Himmelsbibliothek – und dass Gott am Versöhnungstag die Seiten durchging und mit einer Schreibfeder ankreuzte, wer leben durfte und wer sterben würde. Ich fürchtete immer, dass ich nicht fleißig genug betete, dass ich noch inbrünstiger sein musste, damit Gottes Feder die richtige Seite wählte.
    Was genau am Tod macht den Menschen am meisten Angst?, fragte ich den Rebbe.
    »Angst?« Er überlegte. »Nun, ich denke, die Frage: Was passiert danach? Wo kommen wir hin? Ist es so, wie wir es uns vorgestellt haben?«
    Das sind auch große Fragen.
    »Ja. Aber es gibt noch eine andere große Angst.«
    Welche denn?
    Er beugte sich vor.
    »Die Angst, vergessen zu werden«, flüsterte er.
    Nicht weit von meinem Haus entfernt liegt ein Friedhof, dessen Gräber teilweise noch aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen. Ich habe noch nie erlebt, dass dort jemand Blumen ablegte. Die meisten Leuten lesen die Inschrift, sagen »wow, schau mal, wie alt« und gehen weiter.
    An diesen Friedhof musste ich denken, als ich im Büro des Rebbe saß und er gerade ein wunderschönes und todtrauriges Gedicht rezitiert hatte. Es war von Thomas Hardy und handelte von einem Mann, der zwischen Grabsteinen steht und mit den Toten spricht. Die jüngst begrabenen Seelen klagen darüber, dass die älteren schon aus dem Gedächtnis der Hinterbliebenen verschwunden sind:
    Sie gelten als vergessen
    Wie Männer, die es nie gab
    Verloren nach verlor’nem letzten Atem
    Das ist der zweite Tod.
    Der zweite Tod . Menschen, die in Pflegeheimen liegen und keinen Besuch mehr bekommen. Obdachlose, die auf der Straße erfrieren. Wer trauert um sie? Wer kündet von ihrem Leben auf Erden?
    »Bei einer Russlandreise«, sinnierte der Rebbe, »stießen wir auf eine alte orthodoxe Synagoge. Drin stand ein alter Mann, ganz alleine, und sprach das Kaddisch zum Totengedenken. Wir fragten ihn höflich, für wen er es denn sprach. Er schaute auf und sagte: ›Für mich selbst.‹«
    Der zweite Tod . Die Vorstellung, dass man nach dem Tod vergessen wird. Ich fragte mich, ob wir Amerikaner uns deshalb so sehr bemühen, Spuren zu hinterzulassen. Bekannt zu sein. Überlegen Sie doch einmal, wie wichtig es heutzutage geworden ist, berühmt zu sein. Um berühmt zu werden, singen wir, offenbaren Geheimnisse, nehmen ab, essen Käfer oder begehen im schlimmsten Fall sogar einen Mord. Die jungen Leute verleihen ihren Gefühlen auf Websites Ausdruck oder stellen Kameras in ihrem Schlafzimmer auf. Es kommt mir vor, als würden wir alle schreien: Nehmt mich wahr! Erinnert euch an mich! Und doch ist diese Berühmtheit

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