Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Covington von der I Am My Brother’s Keeper Ministry durch die riesige Kirche schritt, die mit ihrer hohen Decke, der gewaltigen Mahagonikanzel, der hoch aufragenden Orgel und einer Empore beeindruckend und sehr alt wirkte.
Allerdings trug sie auch sämtliche Spuren des Verfalls.
Überall blätterte die Farbe ab. Die Wände waren rissig und viele Dielen so morsch, dass man mit dem Fuß im Teppich hängenblieb und sich leicht verletzen konnte. Ich blickte nach oben und entdeckte ein Loch im Dach.
Ein sehr großes Loch, etwa drei Meter breit.
»Das ist ein echtes Problem«, sagte Henry. »Vor allem wenn’s regnet.«
Man hatte Eimer aufgestellt, um das Wasser aufzufangen, doch auch die weißen Wände hatten schon braune Flecken. Ein derartig großes Loch im Dach hatte ich in einem Gotteshaus noch nie gesehen. Es sah aus wie ein Schiff, das von einer Kanonenkugel getroffen wurde.
Wir setzten uns. Henrys Bauch hing so schwer herab, dass er ihn auf der Kirchenbank abstützen musste.
»Was führt Sie denn zu mir?«, fragte er höflich.
Sie kümmern sich um Obdachlose, nicht wahr?
»Ja, ein paar Abende pro Woche«, antwortete Henry.
Bekommen sie hier auch etwas zu essen?
»Ja, im Untergeschoss.«
Und schlafen die Obdachlosen auch hier?
»Ja.«
Müssen sie Christen sein, damit sie Hilfe bekommen?
»Nein.«
»Versuchen Sie, diese Leute zum Christentum zu bekehren?«
»Nein. Wir bieten Gebete an und fragen, ob jemand sich Jesus anschließen möchte, aber niemand wird dazu gezwungen. Hier ist jeder willkommen.«
Ich nickte und berichtete ihm von unserer Organisation. Bot unsere Unterstützung an.
»Oh.« Henry zog die Augenbrauen hoch. »Das wäre schön.«
Ich sah mich um.
Das ist eine große Kirche, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte Henry grinsend.
Ihr Akzent klingt nach New York.
»Mhm. Brooklyn.«
Ist das hier Ihre erste Gemeinde?
»Ja. Als ich hier anfing, war ich Diakon und Hausmeister. Ich hab ausgekehrt, die Böden gewischt und die Toiletten saubergemacht.«
Ich dachte an den Rebbe, der in unserer Gemeinde anfänglich auch beim Saubermachen und Abschließen der Türen geholfen hatte. Vielleicht lernen die Männer Gottes auf diese Weise, demütig und bescheiden zu sein.
»Diese Kirche war vor langer Zeit mal sehr berühmt«, sagte Henry. »Vor ein paar Jahren ist sie an unser Pfarramt verkauft worden. Und da hat man mir gesagt, wenn wir sie erhalten könnten, gehöre sie uns.«
Ich sah mich um.
Wollten Sie immer schon Pastor werden?
Er lachte schnaubend.
»Nee.«
Was wollten Sie nach der Schule machen?
»Um ehrlich zu sein: Da saß ich im Knast.«
Ach ja?, erwiderte ich so gelassen wie möglich. Warum?
»Oje, ich hab alles Mögliche gemacht. Drogen gedealt, Autos gestohlen. In den Knast kam ich dann wegen Totschlags. Obwohl ich gar nichts damit zu tun hatte.«
Und was hat Sie hierhergeführt?
»Tja, eines Abends hab ich geglaubt, dass ein paar Typen, die ich ausgeraubt hatte, mich umbringen würden. Deshalb hab ich Gott ein Versprechen gegeben. Wenn ich am nächsten Morgen noch am Leben wäre, wollte ich mein weiteres Leben ihm widmen.«
Er hielt inne, als habe ein alter Schmerz sich in ihm geregt. »Das war vor zwanzig Jahren«, sagte er und tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. »Ich hab viel gesehen im Leben. Ich weiß, was der Mann gemeint hat, der schrieb ›Glory, Glory, hallelujah, since I laid my burden down‹.«
Verstehe, sagte ich. Mehr fiel mir in diesem Moment nicht ein.
Ein paar Minuten später gingen wir zum Seitenausgang und gelangten über eine schmutzige Treppe zu dem kleinen, trübe beleuchteten Raum im Keller, in dem die Obdachlosen untergebracht waren.
An diesem Tag bewilligte ich noch keine finanzielle Hilfe, sondern sagte Henry, dass ich zu einem zweiten Gespräch wiederkommen würde. Offen gestanden war sein Gefängnisaufenthalt ein Warnzeichen für mich. Ich wusste zwar, dass Menschen sich verändern können. Aber ich wusste auch, dass manche Menschen nur ihre Umgebung verändern.
Als Sportreporter und Einwohner von Detroit hatte ich es häufig mit gesetzeswidrigem Verhalten zu tun: Drogendelikte, Waffen, Überfälle. Häufig hatte ich »Entschuldigungen« in Pressekonferenzen miterlebt. Ich hatte Männer interviewt, die absolut überzeugend behaupten konnten, sie würden nie wieder auf die falsche Bahn geraten. Dann schrieb man Lobeshymnen über sie – und ein paar Monate später steckten sie im nächsten Schlamassel.
Das war schon beim Sport
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