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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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könne. Draußen regnete es heftig, und durch das große Loch in der Decke tropfte fortwährend Wasser, das von den roten Eimern aufgefangen wurde.
    Die Kirche war fast leer. Neben dem Altar saß ein Mann an einer Hammondorgel und spielte gelegentlich einen Akkord, den ein Drummer mit einem Trommelschlag unterstrich. Die Wände der großen, leeren Kirche warfen das Echo zurück.
    Pastor Henry stand in einem langen blauen Talar neben dem Altar und wiegte den Oberkörper vor und zurück. Er hatte mich immer wieder zu seinem Gottesdienst eingeladen, und ich hatte mich schließlich darauf eingelassen, obwohl ich selbst nicht genau wusste, weshalb. Vielleicht aus Neugierde. Vielleicht aber auch, weil ich mich davon überzeugen wollte, ob eine Spende unserer Organisation hier sinnvoll wäre. Pastor Henry hatte mir sämtliche Details seiner kriminellen Geschichte – Drogen, Waffen, Haftstrafen – offenbart. Einerseits fand ich es ehrenwert, dass er so aufrichtig war; andererseits bot seine Vergangenheit mir aber nicht gerade Anlass, in seine Zukunft zu investieren.
    Aber er strahlte auch etwas Trauriges und Erschöpftes aus, als habe er die Welt – oder wenigstens bestimmte Seiten von ihr – gründlich satt. Und ich musste zwar unwillkürlich an den Spruch denken »traue niemals einem fetten Priester«, hatte aber wiederum wenig Bedenken, dass Henry Covington sich an seiner Gemeinde bereicherte. Da gab es nämlich nichts, woran man sich bereichern konnte.
    Er blickte auf, sah mich an und fuhr mit seiner Predigt fort.
    Henry Covington wurde 1992 von Bischof Roy Brown von der Pilgrim Assemblies International in New York nach Detroit entsandt. Brown hatte Henry in seiner Kirche entdeckt, sich seine Geschichte angehört und ihn mit in Gefängnisse genommen, wo er Zeuge davon wurde, wie Insassen auf Henrys Berichte reagierten. Daraufhin bildete er Henry aus, ernannte ihn zum Diakon und schickte ihn in die Motor City.
    Henry hätte für Bischof Brown alles getan. Er zog mit seiner Familie in ein Ramada Inn in Downtown Detroit. Man bezahlte ihm dreihundert Dollar die Woche, um eine neue Pilgrim-Gemeinde aufzubauen. Bischof Brown hatte ihm einen alten schwarzen Wagen überlassen, nicht zuletzt, damit er an den Wochenenden in Detroit Gottesdienste abhalten konnte.
    Mittlerweile war Henry Covington für drei Pastoren tätig, von denen jeder seine Lernbereitschaft und seinen leichten Zugang zu Menschen zu schätzen wusste. Er wurde zum Kirchenältesten und schließlich zum Pastor befördert. Doch dann ließ das Interesse der Pilgrim Assemblies nach, Bischof Brown stattete ihm keine Besuche mehr ab, und damit schwanden auch Henrys Geldquellen.
    Er wurde ins kalte Wasser geworfen.
    Sein Haus wurde gepfändet und von den Sheriffs mit einem Schild versehen. Man stellte ihm Wasser und Strom ab. In der Kirche ging inzwischen die Heizung kaputt, und die Rohre waren undicht. Drogendealer tauchten auf und versprachen Henry, dass er in Kürze keine Geldsorgen mehr hätte, wenn sie die Kirche als Verteilerzentrale benutzen könnten.
    Doch mit diesem Leben als Krimineller hatte Henry endgültig abgeschlossen.
    Er trat die Flucht nach vorne an, gründete die Gemeinde »I Am My Brother’s Keeper«, bat Gott um Beistand und tat alles, was in seinen Kräften stand, um seine Kirche und seine Familie am Leben zu erhalten.
    Zur Musik der Hammondorgel stakste ein Mann mühsam nach vorne zum Altar. Es war der Einbeinige, den ich bei meinem ersten Besuch hier kennengelernt hatte. Er hieß Anthony Castelow und wurde von allen »Cass« genannt. Und er war Kirchenältester.
    »Herr, wir danken Dir«, sprach er mit fast geschlossenen Augen, »wir danken Dir, wir danken Dir, wir danken Dir …«
    Jemand klatschte in die Hände. Jemand schrie: »Ja, Herr.« Wenn die Tür aufging, drang von draußen der Straßenlärm herein.
    »Wir danken Dir, Herr Jesus … für unseren Pastor, für diesen Tag …«
    Ich zählte in diesem Gottesdienst sechsundzwanzig Menschen afroamerikanischer Herkunft, vorwiegend Frauen. Ich saß hinter einer älteren Frau, die ein ozeanfarbenes Kleid und einen breiten Hut in derselben Farbe trug. Es war eine winzige Gemeinde, verglichen mit den kalifornischen Riesenkirchen oder einer Synagoge in einem städtischen Vorort.
    »Wir danken Dir für diesen Tag, Herr Jesus …«
    Als der Kirchenälteste Cass zu Ende gesprochen hatte, wandte er sich zum Gehen, blieb aber mit seiner Krücke am Kabel hängen, und das Mikrofon fiel mit lautem

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