Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
eingepackt, bevor sie in den Bus stiegen. Sie dürfen nicht vergessen, dass viele Leute in der Gegend hier zum ersten Mal Juden gesehen haben.«
Führte das zu sonderbaren Vorkommnissen?
Er gluckste. »Und ob. Einmal kam eine Frau aus unserer Gemeinde ganz aufgeregt zu mir und erzählte, ihrem Sohn, dem einzigen jüdischen Jungen in der Klasse, sei eine Rolle im Weihnachtsschauspiel zugeteilt worden. Und zwar sollte er das Jesuskind spielen.
Ich ging also zur Lehrerin und erklärte ihr das Problem. Darauf sagte sie: ›Aber genau deshalb haben wir ihn doch ausgesucht, Herr Rabbiner. Weil Jesus Jude war!‹«
Ich erinnerte mich an ähnliche Erlebnisse. In der Grundschule blieb ich von den großen aufwändigen Weihnachtsaufführungen ausgeschlossen. Stattdessen musste ich mit den wenigen anderen jüdischen Kindern das Chanukka-Lied »Dreidel, Dreidel, Dreidel, I Made It Out of Clay« singen. Wir hielten uns an den Händen, drehten uns im Kreis und imitierten den wirbelnden Kreisel. Keine Requisiten und keine Kostüme für uns. Am Ende des Lieds ließen wir uns alle zu Boden fallen.
Ich sah, wie einige nichtjüdische Eltern sich das Lachen verkneifen mussten.
Kann man eine religiöse Debatte gewinnen? Welcher Gott ist der beste? Wer versteht die Bibel falsch? Ich fühle mich eher Menschen wie Rajchandra verbunden, dem indischen Dichter, der Gandhi nahestand und lehrte, dass keine Religion einer anderen überlegen sei, weil sie ausnahmslos alle die Menschen näher zu Gott brächten. Oder Gandhi selbst, der das Fasten mit hinduistischen Gebeten, muslimischen Zitaten oder christlichen Liedern brach.
Der Rebbe hatte immer mit Überzeugung seinen Glauben gelebt, aber niemals versucht, jemanden zu bekehren. Im Allgemeinen bemüht sich das Judentum auch nicht um Missionierung. Es liegt eher in seiner Tradition, Konvertiten zu Anfang zu entmutigen, indem man ihnen vor Augen hält, welchen Verfolgungen diese Religion seit ihrem Entstehen ausgesetzt war (was nicht für alle Religionen gilt). Millionen Juden sind im Laufe der Jahrtausende getötet worden, weil sie keine andere Religion annehmen, ihren Glauben nicht aufgeben und keine anderen Götter anbeten wollten. Rabbi Akiba, der berühmte Gelehrte aus dem zweiten Jahrhundert, wurde von den Römern zu Tode gefoltert, weil er sich weigerte, seine religiösen Studien aufzugeben. Als sie ihn mit Eisenkämmen marterten, flüsterte er seine letzten Worte auf Erden: »Höre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige allein.« Er starb mit dem Wort »allein« auf den Lippen.
Dieses Gebet – und das Wort »allein« – waren zwei zentrale Bausteine von Albert Lewis’ Religion. »Allein« wie in der Formulierung »der Ewige allein«. Und wie der Mensch, den Gott geschaffen hat, Adam.
»Fragen Sie sich doch mal selbst: Warum schuf Gott nur einen einzigen Menschen?«, sagte der Rebbe und wedelte mit dem Zeigefinger. »Wenn er wollte, dass es Streit gibt zwischen den Religionen – wieso hat er nicht von Anfang an viele Menschen geschaffen? Bei den Bäumen hat er sich ja auch nicht auf einen einzigen beschränkt.
Die Antwort lautet: Weil wir alle von diesem einen Mann abstammen – und alle von diesem einen Gott geschaffen wurden. So lautet die Botschaft.«
Doch warum ist die Welt dann so gespalten?, frage ich.
»Nun, betrachten wir es doch einmal so: Würden Sie wollen, dass alles auf der Welt gleich aussieht? Nein. Leben entsteht doch erst durch Vielfalt.
Sogar innerhalb unseres Glaubens gibt es Fragen und Antworten, Deutungen und Debatten. Dasselbe gilt für das Christentum und für jeden anderen Glauben. Und das ist sehr schön. Es ist wie in der Musik: Würde man immer nur eine einzige Note spielen, würde man über kurz oder lang verrückt werden. Erst aus der Mischung unterschiedlicher Noten entsteht die Musik.«
Welche Musik?
»Die Musik, die es einem ermöglicht an etwas zu glauben, das größer ist als man selbst.«
Aber wenn jemand einen anderen Glauben nicht anerkennen oder Menschen anderen Glaubens sogar töten will?
»Dann ist das kein Glaube, sondern Hass.« Der Rebbe seufzte. »Und ich persönlich denke, dass Gott da oben sitzt und weint, wenn so etwas geschieht.«
Er hustete und lächelte mir zu, als wolle er mich beruhigen. Inzwischen hatte er jeden Tag Menschen im Haus, die ihm halfen, darunter eine große Ghanaerin und einen stämmigen Russen. Während der Woche kümmerte sich eine reizende Hindu-Frau aus Trinidad mit Namen Teela um ihn. Sie war
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