Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Mal sehe ich eine echte Verbindung zwischen beiden Männern. Eine christliche Kirche im Stadtzentrum. Eine Synagoge in der Vorstadt.
Unsere Gemeinde jedoch schaffte umgehend das Geld heran. Henry konnte die seine nicht einmal darum bitten.
NOVEMBER
Dein Glaube, mein Glaube
I n meiner Jugend hielt der Rebbe eine Predigt, die ich damals lustig fand. Er verlas dabei einen Dankesbrief von einem anderen Geistlichen, der mit den Worten endete: »Möge Ihr Gott – und unser Gott – Sie segnen.«
Ich fand es komisch, dass zwei verschiedene Allmächtige dieselbe Botschaft verkünden sollten. Damals war ich zu jung, um den ernsthaften Hintergrund dieser Bemerkung zu ermessen.
Als ich in den Mittelwesten zog – eine Region der USA, die aufgrund ihrer starken religiösen Prägung auch den Spitznamen »Northern Bible Belt«, »Bibelgürtel«, trägt –, bekam dieses Thema ein anderes Gewicht für mich. Beim Einkaufen sagten wildfremde Menschen »Gott segne Sie« zu mir. Was sollte ich darauf antworten? Ich machte Interviews mit Sportlern, die für ihre Touchdowns oder Homeruns »Unserem Herrn und Erlöser Jesus Christus« dankten. Ich arbeitete in Sozialprojekten mit Hindus, Buddhisten und Katholiken zusammen. Und weil es im Großraum Detroit die größte arabische Bevölkerung außerhalb des Nahen Ostens gibt, waren muslimische Themen ein Teil des Alltags – wie zum Beispiel die Debatte über die durch Lautsprecher verstärkte Ausrufung des »Adhan«, des Gebetsrufs, in einer Moschee in einer stark polnisch geprägten Gegend, wo bereits ständig Kirchenglocken schlugen.
So war die Formulierung »Möge Ihr Gott und unser Gott Sie segnen« – mitsamt der Frage, wessen Gott nun wen segnete – für mich längst nicht mehr erheiternd, sondern ein höchst kompliziertes Thema geworden. Ich reagierte darauf, indem ich mich nicht zu meiner Religion äußerte, ja, sie sogar beinahe geheim hielt. Dieses Verhalten legen Angehörige einer Minderheitenreligion oft an den Tag. Ich habe mich damals meiner Religion unter anderem deshalb entfremdet, weil ich nicht für sie einstehen wollte. Das finde ich im Rückblick ziemlich jämmerlich, aber genau so war es.
An einem Sonntag vor Thanksgiving fuhr ich von New York aus mit dem Zug zum Rebbe. Ich umarmte ihn, als ich ins Haus kam, und folgte dann ihm und dem Rollator ins Büro. Der Rollator war inzwischen mit einem kleinen Korb am Lenker ausgestattet, in dem Bücher und aus mir unerfindlichen Gründen eine rote Rumbakugel lagen.
»Ich habe gemerkt«, erklärte der Rebbe verschmitzt, »dass die Gemeinde entspannter ist, wenn der Rollator eher wie ein Einkaufswagen aussieht.«
Seine Trauerrede war inzwischen zu etwas wie einer Hausarbeit für mich geworden. Bei manchen Besuchen war es mir vorgekommen, als hätte ich noch eine Ewigkeit Zeit dafür; bei anderen wiederum hatte ich das Gefühl gehabt, mir blieben nicht einmal Wochen, sondern nur noch wenige Tage. Heute schien es dem Rebbe gut zu gehen; sein Blick war klar und seine Stimme kraftvoll, was mich freute. Sobald wir uns gesetzt hatten, erzählte ich ihm von der Organisation für die Obdachlosen und der Sozialstation, in der ich übernachtet hatte.
Ich war unsicher, ob ich eine christliche Einrichtung überhaupt bei einem Rabbiner erwähnen sollte, und fühlte mich auch prompt schlecht deshalb. Mir fiel eine Geschichte wieder ein, die mir der Rebbe über seine Großmutter erzählt hatte, die sich in der Neuen Welt nicht auskannte. Er war mit ihr bei einem Baseballspiel gewesen, und als bei einem Homerun alle aufsprangen und jubelten, blieb sie sitzen. Als er sie fragte, weshalb sie nicht applaudiere, erwiderte sie auf Jiddisch: »Albert, ist das gut für die Juden?«
Doch ich hatte mir umsonst Sorgen gemacht. Derlei Urteile fällte der Rebbe nicht. »Unser Glaube hält uns dazu an, wohltätig zu sein und den Armen in unserer Gemeinschaft zu helfen«, sagte er. »Das ist immer recht, egal, wem man dabei hilft.«
Und kurz darauf befanden wir uns in einer Grundsatzdebatte. Wie können unterschiedliche Religionen miteinander auskommen? Wenn man in einer Religion an etwas glaubt und in der anderen nicht – wieso haben dennoch beide recht? Und hat eine Religion das Recht – oder womöglich die Pflicht –, eine andere zu bekehren?
Der Rebbe hatte schon sein Leben lang mit diesen Themen zu tun. »Anfang der fünfziger Jahre«, erinnert er sich, »haben die Kinder unserer Gemeinde ihre jüdischen Bücher in braunes Papier
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