Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
vor uns.
An einem Dienstag vor Thanksgiving fuhr ich zur Kirche von Pastor Henry, um mir anzusehen, was für ein Obdachlosenprogramm die Gemeinde auf die Beine gestellt hatte. Noch immer war ich nicht hundertprozentig einverstanden mit dem Pastor. Vieles an seiner Kirchengemeinde war mir fremd und unverständlich. Doch die Worte des Rebbe – dass man seinen eigenen Glauben für richtig halten und dennoch die Religion anderer akzeptieren kann – waren mir in Erinnerung geblieben.
Und das ganze Thema mit der Gemeinschaft – nun, Detroit war meine Stadt. Deshalb beschloss ich, mich nützlich zu machen. Ich half Henry beim Einkauf einer blauen Plane für die Decke, damit der Innenraum der Kirche wenigstens vorerst trocken blieb. Die Dachreparatur allerdings war ein größeres Unterfangen, das laut Einschätzung eines Bauunternehmers an die achtzigtausend Dollar kosten würde.
»Uuuh«, hatte Henry gestöhnt, als man ihm den geschätzten Betrag mitteilte. So viel Geld hatte seine Kirchengemeinde wohl noch nie zur Verfügung gehabt. Er tat mir leid. Aber derartige Summen mussten von anderen Quellen angeboten werden, fand ich. Ich für mein Teil wollte es bei einer Plane belassen.
Ich stieg aus dem Auto. Ein eisiger Wind schlug mir ins Gesicht. Weil Pastor Henry mit der Obdachlosenunterbringung begonnen hatte, drängten sich etliche vermummte Gestalten vor der Kirche. Einige rauchten. Ich sah einen dünnen Mann mit einem Kind auf der Schulter, doch dann merkte ich, dass es sich um eine Frau handelte, die ihre Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte. Ich hielt ihr die Tür auf, und sie betrat die Kirche.
Drinnen hörte ich ein Brummen wie von kleinen Maschinen und eine laute Stimme, die den Lärm übertönte. Ich trat zu dem Steg, von dem aus man ins Untergeschoss blicken konnte. In dem Kellerraum standen überall Klapptische, an denen circa achtzig obdachlose Männer und Frauen saßen. Sie waren meist in alte Jacken und Kapuzenshirts gekleidet. Einige hatten auch Parkas an, und einer trug eine Detroit-Lions-Jacke.
Henry, in blauem Sweatshirt und dickem Mantel, stand zwischen den Tischen und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Ich bin wichtig!«, rief er.
»Ich bin wichtig!«, wiederholte der Chor.
»Ich bin wichtig!«, rief Henry.
»Ich bin wichtig!«, echote der Chor.
»Weil Gott mich liebt!«
»Weil Gott mich liebt!«
Ein paar Leute klatschten. Henry atmete aus und nickte. Nacheinander standen alle auf, bildeten einen Kreis und hielten sich an den Händen. Gemeinsam sprachen sie ein Gebet.
Dann wurde der Kreis wie auf Zuruf aufgelöst, und alle stellten sich in einer Schlange vor der Küche an, wo es etwas Warmes zu essen gab.
Ich schlug meinen Kragen hoch. Es war eisig in der Kirche.
»Schön’ guten Abend, Mister Mitch.«
Ich schaute zur Seite und sah Cass, den einbeinigen Kirchenältesten, mit einem Klemmbrett in der Hand auf dem Steg sitzen. Er hörte sich an, als wolle er gleich noch seine Mütze lüpfen. Ich hatte inzwischen erfahren, dass er sein Bein vor einigen Jahren wegen Diabetes und einer Herzoperation verloren hatte. Und dennoch war er immer so fröhlich.
Hi, Cass.
»Der Pastor ist da unten.«
Henry blickte auf und winkte mir zu. Cass ließ mich nicht aus den Augen.
»Wann hör’n Sie sich mal meine Geschichte an, Mister Mitch?«
Sie wollen mir eine Geschichte erzählen?
»Eine, die Sie unbedingt hören müssen.«
Hört sich an, als hättest du Stoff für mehrere Tage.
Er lachte. »Nee, nee, das nun auch nicht. Aber Sie sollten Sie hören. Ist wichtig.«
Ist gut, Cass. Wir schauen mal.
Das schien ihn vorerst zufriedenzustellen, und er ließ von dem Thema ab. Ich fröstelte und zog meinen Mantel enger um mich.
Es ist echt kalt hier drin, sagte ich.
»Die haben die Heizung abgestellt.«
Wer?
»Die Gasfirma.«
Warum?
»Warum? Na ja, die Rechnung ist nicht bezahlt worden, denk ich mal.«
Das Brummen war ohrenbetäubend. Wir mussten förmlich schreien, um uns zu verständigen.
Was ist das für ein Krach?, fragte ich Cass.
»Heizlüfter.«
Er deutete auf eine Reihe von Maschinen, die wie gelbe Windsäcke aussahen und warme Luft zu den Obdachlosen hinüberbliesen, die für Chili und Maisbrot anstanden.
Man hat euch wirklich die Heizung abgestellt?, fragte ich.
»So sieht’s aus.«
Aber der Winter hat gerade erst angefangen.
»Stimmt«, bekräftigte Cass und blickte auf die Essensschlange hinunter. »Bald werden hier noch viel mehr Leute auftauchen.«
Eine halbe
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