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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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Inhalator und den richtigen Verhaltensanweisungen ausgestattet, wäre dieser Vorfall vielleicht nicht einmal dramatisch.
    Aber heute ist nicht gestern, und der Rebbe hörte Worte von einem Arzt, dem er in dieser Nacht zum ersten Mal begegnet war, die schlimmsten Worte von allen: Wir konnten sie nicht retten .
    Wie konnte es dazu kommen? Rinah war tagsüber ganz normal gewesen, ein fröhliches Kind, dessen ganzes Leben noch vor ihm lag. Wir konnten sie nicht retten ? Was ergab das für einen Sinn in der Logik des Lebens?
    Die nächsten Tage brachte der Rebbe in einer Art Nebel zu. Es gab ein Begräbnis, einen kleinen Sarg. Am Grab sprach der Rebbe das Kaddisch, ein Gebet, in dem der Tod nicht erwähnt wird, das jedoch alljährlich zum Angedenken am Todestag eines Menschen gesprochen wird.
    »Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde …«
    Eine Schaufel Erde wurde auf den Sarg geworfen.
    Rinah wurde beerdigt.
    Der Rebbe war damals sechsunddreißig Jahre alt.
    »Damals habe ich Gott verflucht«, hatte er mir gestanden, als wir darüber sprachen. »Wieder und wieder habe ich Ihn gefragt ›Warum sie? Was hat dieses kleine Mädchen getan? Sie war vier Jahre alt. Sie hat keiner Seele etwas zuleide getan.‹«
    Haben Sie eine Antwort bekommen?
    »Nein, bis heute nicht.«
    Hat Sie das wütend gemacht?
    »Ja, es hat mich eine ganze Weile erzürnt.«
    Hatten Sie Schuldgefühle, weil Sie Gott verflucht haben – ausgerechnet Sie?
    »Nein«, antwortete der Rebbe. »Denn auch dabei habe ich ja anerkannt, dass es eine höhere Macht gibt.«
    Er hielt inne.
    »Und das war der Beginn des Heilungsprozesses für mich.«
    Als der Rebbe in die Synagoge zurückkehrte, war jeder Platz besetzt. Einige Leute kamen, um ihr Mitgefühl auszudrücken, andere zweifellos auch aus Neugierde. Doch insgeheim fragte sich wohl jeder: »Was wird er sagen, nachdem ihm dieses Leid widerfahren ist?«
    Dem Rebbe war das bewusst. Unter anderem kehrte er deshalb so bald ins Gemeindehaus zurück – bereits am ersten Freitag nach der vorgeschriebenen dreißigtägigen Trauerzeit.
    Und als er ans Pult trat und die Gemeinde verstummte, sprach er auf die einzige Art, die er beherrschte – von Herzen. Er gestand, dass er dem Herrn gezürnt hatte. Dass er vor Schmerzen geschrien und eine Antwort von Gott verlangt hatte. Dass es auch für ihn als Mann Gottes nichts gab, was ihm Schmerz und Leid ersparen würde, weil er sein kleines Mädchen nie wieder im Arm halten konnte.
    Doch er sprach auch davon, dass ihm die Trauerrituale, zu denen er verpflichtet war – die Gebete, der Riss in der Kleidung, die unterlassene Rasur, das Verhängen der Spiegel – dabei geholfen hatten, sich nicht zu verlieren.
    »Was ich zu so vielen anderen Menschen gesagt habe, muss ich nun endlich auch zu mir selbst sagen«, gestand er. Und dabei wurde sein Glaube dem allerhärtesten Test unterzogen: Der Rebbe musste sein eigenes Elixir trinken und sein gebrochenes Herz selbst heilen.
    Er erzählte der Gemeinde, dass er beim Sprechen des Kaddisch gedacht hatte: Ich bin nicht alleine, ich bin Teil von etwas; eines Tages werden meine Kinder dieses Gebet für mich sprechen, so wie ich es jetzt für meine Tochter spreche.
    Sein Glaube hatte die kleine Rinah zwar nicht vor dem Tode bewahren können, doch er beruhigte den Rebbe, machte den Tod seiner Tochter erträglicher, indem er ihm in Erinnerung rief, dass wir alle verletzliche Teile eines mächtigen Ganzen sind.
    Seine Familie, sprach der Rebbe zur Gemeinde, war gesegnet gewesen, weil sie dieses Kind bei sich haben durfte, wenn auch nur für ein paar kurze Jahre. Und eines Tages würde er Rinah wiedersehen. Daran glaubte er, und dieser Glaube tröstete ihn.
    Als er seine Predigt beendete, weinten fast alle im Raum.
    »Und immer wenn ich danach jemandem einen Besuch abstattete, der ein Familienmitglied – vor allem junge Menschen – verloren hatte«, erzählte mir der Rebbe, »versuchte ich, tröstlich zu sein, indem ich mich daran erinnerte, was mich getröstet hatte. Manchmal saßen wir nur stumm beisammen, und vielleicht hielt ich jemandem die Hand. Ließ die Leute sprechen. Und weinen. Nach einer Weile merkte ich, dass es ihnen besser ging.
    Und wenn ich das Haus verließ, machte ich immer das …«
    Der Rebbe berührte seine Zunge mit dem Finger und deutete dann himmelwärts.
    »Einer mehr für dich, Rinah«, sagte er lächelnd.
    Nun saß ich beim Rebbe und hielt seine

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