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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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Stunde später saßen Henry und ich in seinem Büro neben einem Heizlüfter. Jemand kam herein und brachte uns einen Pappteller mit Maisbrot.
    Was ist passiert?, fragte ich.
    Henry seufzte. »Es hat sich rausgestellt, dass wir 37 000 Dollar Schulden bei der Gasfirma haben.«
    Was?
    »Ich wusste, dass wir im Rückstand waren, aber das waren eigentlich nur kleinere Beträge, und irgendwas konnten wir immer zahlen. Aber jetzt ist es so schnell kalt geworden, dass wir angefangen haben, die Kirche während der Gottesdienste und Bibelstunden zu heizen. Uns war nur nicht klar, dass wegen dem Loch auf dem Dach …«
    … die ganze Wärme verpuffte?
    »Ganz genau. Wir haben die Heizung höher gestellt …«
    … und es wurde trotzdem nicht warm.
    Henry nickte. »So ist es.«
    Und was machen Sie jetzt?
    »Na ja, wir haben die Heizlüfter. Zuerst wollten sie uns auch noch den Strom abdrehen. Aber ich hab die angefleht, dass sie uns wenigstens den lassen sollen.«
    Ich war fassungslos. Eine Kirche ohne Heizung, in Amerika, im einundzwanzigsten Jahrhundert.
    Wie können Sie so etwas mit Ihrem Glauben in Einklang bringen?, fragte ich Henry.
    »Diese Frage stelle ich Unserem Herrn häufig«, antwortete er. »Ich sage ›Herr, was geschieht mit uns?‹ Es kommt mir vor wie im Fünften Buch Mose, Kapitel 28: ›Verflucht wirst du sein in der Stadt, verflucht wirst du sein auf dem Lande‹, weil wir in Ungehorsam leben.«
    Und was antwortet Ihnen der Herr?
    »Ich bete noch immer und sage: Herr, zeig dich uns doch.«
    Er seufzte. »Deshalb war diese Plane von Ihnen so wichtig für uns, Mitch. Unsere Leute hier brauchten einen Hoffnungsschimmer. Letzte Woche hat es in die Kirche reingeregnet und in dieser Woche nicht mehr. Für die Leute ist das ein Zeichen.«
    Mir war unbehaglich zumute. Ich wollte nicht, dass meine Handlungen als Zeichen gedeutet wurden. Nicht in einer Kirche. Schließlich handelte es sich doch nur um ein Stück Plastik. Eine blaue Plane.
    Darf ich Sie was fragen?, sagte ich.
    »Natürlich.«
    Wie viel Geld hatten Sie, als Sie noch Drogen verkauft haben?
    Er rieb sich den Nacken. »Oh Mann. Wissen Sie, dass ich in einer bestimmten Zeit mal in anderthalb Jahren eine halbe Million Dollar verdient hab?«
    Und jetzt stellt man Ihnen das Gas ab?
    »Ja«, sagte er leise, »jetzt stellt man uns das Gas ab.«
    Ich fragte ihn nicht, ob er sich manchmal nach jener Zeit zurücksehnte. Im Rückblick fand ich es schon schlimm genug, dass ich ihm die erste Frage überhaupt gestellt hatte.
    Später, als alle aufgegessen hatten und die Tische zusammengeklappt waren, rief Cass die Namen auf seiner Liste auf – »Everett! … DeMarcus!« –, und die Männer standen auf und nahmen eine dünne Schaumstoffmatte und eine Wolldecke in Empfang. Dann richteten sie sich in kleinem Abstand von den anderen ihr Nachtlager ein. Einige hatten Müllsäcke mit ihrer Habe bei sich, andere besaßen nichts außer den Kleidern, die sie am Leib trugen. Es war bitterkalt, und Cass’ Stimme hallte von den Wänden wider. Die Männer waren ziemlich stumm, als sei dies der Moment, in dem ihnen bewusst wurde, dass sie kein Bett und auch kein Zuhause hatten und dass weder Frau noch Kind ihnen eine gute Nacht wünschen würden.
    Nur die Heizlüfter brummten.
    Eine Stunde später hatte Cass seine Aufgabe beendet und kam auf seinen Krücken in den Vorraum der Kirche gehumpelt. Die Männer lagen alle auf ihren Matten, und das Licht im Untergeschoss wurde ausgeschaltet.
    »Und vergessen Sie nicht: Nächstes Mal erzähl ich Ihnen meine Geschichte«, sagte Cass.
    Ja, alles klar, Cass, erwiderte ich. Ich hatte die Hände in die Taschen gesteckt und zitterte dennoch vor Kälte. Wie die Männer bei dieser Kälte schlafen konnten, war mir ein Rätsel. Doch andernfalls hätten sie auf einem Dach oder in einem Autowrack übernachten müssen.
    Ich wollte gerade aufbrechen, als ich merkte, dass ich meinen Notizblock in Henrys Büro vergessen hatte. Ich ging wieder nach oben, aber die Tür war abgeschlossen.
    Auf dem Rückweg schaute ich noch einmal in den Kellerraum hinunter. Einige der Männer lagen still unter ihren Decken, andere waren unruhig. Es ist schwer auszudrücken, was ich bei diesem Anblick empfand; ich dachte einfach, dass jeder dieser dunklen Umrisse unter den Decken einst ein Kind gewesen war, das eine Mutter einmal im Arm gehalten hatte. Und nun das: ein kalter Steinboden am Ende der Welt.
    Ich fragte mich, ob dieser Anblick Gott nicht schmerzen würde –

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